Meister Eckhart: 6. Kapitel


„Meister Eckhart ist kein Mystiker.“

Dies behaupteten und erklärten immer wieder Eckhart-Interpreten, zuletzt und kürzlich erst Kurt Flasch (2010).
Zuweilen folgen diesem Diktum jedoch zwei bedeutungsschwere „Wenn“ – wenn man erstens Eckharts Leben, Arbeiten und Lehren mit dem vergleicht, was zu seiner Zeit (und auch noch später) für „Mystik“ galt, nämlich parapsychologische Geschehnisse, Visionen und Auditionen, hysterisch/ ekstatische Anwandlungen und psychotische Widerfahrnisse.
Das zweite „Wenn“ wird zum „Insofern“ man sich weigert, Eckharts Gottes- Philosophie, seine auf Erfahrung und „Erkenntnis“ zielende Gottes- Botschaft als Mystik zu bezeichnen – damit zusammenhängend auch seine Lehre von der Leere, von der Gelassenheit, dem „Lassen“ alles Dinglichen, Gedanklichen, Willentlichen, Zweckgerichteten, die „Abgeschiedenheit“ also, als abstrakte Mystik zu verstehen.

„Dass Philosophie und Mystik sich zu einer Lebensfigur zu sammenzuschließen vermögen, liegt nicht bloß daran, dass die philosophische Erfahrung in ihrem Vorstoß zum Absoluten an die Grenze des Sagbaren gelangt und damit der mystischen Erfahrung nahekommt, sondern vor allem auch daran, dass der Denkende, der die unendliche Einheit Gottes gedanklich zu erfahren trachtet, nicht außerhalb ihrer gedacht werden kann.

So schreibt Alois Haas dazu einführend in seinem Eckhart-Beitrag (1984, S. 160).
Sein darauf folgender Satz: „So können bei Meister Eckhart alle Philosopheme zu Theologumena werden…“ kann aber auch umgekehrt gelesen werden, was vielleicht noch zutreffender ist: Die wichtigsten theologischen Begrifflichkeiten werden bei Eckhart zu philosophischen – und damit maßgeblich verändert.

Von der Mystik des hohen Mittelalters, die zu Eckharts Zeiten teilweise beängstigende Formen angenommen hatte, findet man in Eckharts Schriften nichts – es sei denn in kritischer Distanziertheit.
Gerhart Wehr (1989) meint sogar, die Vermutung hätte einiges für sich, dass mit der Beauftragung Eckharts mit der Seelsorge in den Nonnenklöstern des Ordens auch die Erwartung mitgeschwungen habe, den mystagogischen und mystizistischen Auswüchsen dort Einhalt und Grenzen zu geben. In seinen Texten finden wir das in einer erfreulichen Form der positiven Kritik, indem er nämlich dafür wirbt, das Göttliche im eigenen Selbst (1) zu entdecken, und wahrzunehmen, was ist – auch im Alltag (2).

(1) Wenn aber die Seele erkennt, daß sie Gott erkennt, so gewinnt sie zugleich Erkenntnis von Gott und von sich selbst.

(Quint, S. 148)

(2) Man findet Leute, denen schmeckt Gott wohl in einer Weise, nicht aber in der andern, und sie wollen Gott durchaus (nur) in einer Weise des Sichversenkens besitzen und in der andern nicht. Ich lasse es gut sein, aber es ist völlig verkehrt. Wer Gott in rechter Weise nehmen soll,der muß ihn in allen Dingen gleicherweise nehmen, in der Bedrängnis wie im Wohlbefinden,im Weinen wie so in Freuden;

(Quint 5, S. 176)

Gleichwohl nennt er die misslichen Vorkommnisse auch beim Namen. Er hält nichts von der Leidensmystik oder der fundamentalistischen Leben- Jesu- Nachfolge (3), nichts von dem Erzwingen- Wollen der Gotteserfahrung durch Suggestion, Ekstase und Verzücktheit (4). Wie Eckhart überhaupt mit der zu seiner Zeit kirchlich gebotenen, heftig umtriebigen Werk- Heiligkeit nichts anzufangen wusste. Er vergleicht die Gute- Werke- Verrichter, die sich die göttliche Gnade verdienen wollen, mit Kaufleuten (5) und spielt damit an die „Tempelreinigung“ Jesu an (Mt 21,12).

(3) Hier aber hindern sich ,guteʻ geistliche Leute an rechter Vollkommenheit, indem sie mit ihres Geistes Lust am Bilde der Menschheit unseres Herrn Jesu Christi haften: womit sie sich doch nur an Visionen verlieren, da sie denn, wann auch im Bilde, Dinge sehen in ihrem Geiste, seien es Menschen, oder Engel, oder unsers Herrn Jusu Christi Menschliches…

(Pfeiffer, S. 240)

(4) Denn wahrlich, wenn einer wähnt, in Innerlickeit, Andacht, süßer Verzücktheit und in besonderer Begnadung Gottes mehr zu bekommen als beim Herdfeuer oder im Stalle, so tust du nicht anders, als ob du Gott nähmest, wändest ihm einen Mantel um das Haupt und schöbest ihn unter eine Bank. Denn wer Gott in einer (bestimmten) Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist.

(Quint 6, S. 180)

(5) Wir lesen im heiligen Evangelium, daß unser Herr in den Tempel ging und hinauswarf, die da kauften und verkauften,…
Und dies tut er immer noch allen denen, die da kaufen und verkaufen in diesem Tempel; von denen will er keinen einzigen darin lassen. Seht, alle die sind Kaufleute, die sich hüten vor groben Sünden und wären gern gute Leute und tun ihre guten Werke Gott zu Ehren, wie Fasten, Wachen, Beten und was es dergleichen gibt, allerhand gute Werke, und tun sie doch darum, daß ihnen unser Herr etwas dafür gebe oder daß ihnen Gott etwas dafür tue, was ihnen lieb wäre: dies sind alles Kaufleute. Das ist im groben Sinn zu verstehen, denn sie wollen das eine um das andere geben und wollen auf solche Weise markten mit unsern Herrn. Bei solchem Handel sind sie betrogen. Denn alles, was sie besitzen, und alles, was sie zu wirken vermögen, das haben sie von Gott und nicht von sich.

(Quint 1, S. 153)

Eckhart nimmt mit dieser Kritik etwas vorweg, was zweihundert Jahre später durch Luther reformatorisch propagiert und vom Volk bereitwillig aufgenommen wurde, schließlich wesentlich mit zur Konfessionstrennung beigetragen hat. Die Werk- Gerechtigkeit galt ab da als typisch katholisch.

Eckharts abstrahierende Form der Gottes- Rede also nunmehr „Mystik“ zu nennen, adelt geradezu den Begriff, unter dessen Schild bis in die heutige Zeit viel Befremdliches betrieben worden ist.

Eckhart hat zur Verdeutlichung seiner Sicht das lateinische Wort „abstractum“ mit der Wortschöpfung „Abgeschiedenheit“ (6) verdeutscht.
Nur wenn im Wege der Gelassenheit die Fixierung auf die äußeren Dinge, Wünsche und Erlebnisse abgeschieden (abstrahiert) wird, die „Seele“ also leer ist von aller Äußerlichkeit, kann in diesem abstractum (Leere) das Göttliche „Raum nehmen“ und so erfahrbar werden.

(6) Laß es dir gesagt sein: leer sein alles Erschaffenen, heißt Gottes voll sein, und erfüllt sein von dem Erschaffenen, heißt Gottes leer sein.
In dieser unbeweglichen Abgeschiedenheit ist Gott ewiglich gestanden und steht er noch. Selbst da er Himmel und Erde schuf.

(Büttner, S. 60)

Laotse (6. Jahrh. v. Chr.) hat bereits achtzehnhundert Jahre vor Eckhart diesen Zusammenhang trefflich beschrieben:

„Schaffe Leere bis zum Höchsten!
Wahre die Stille bis zum Völligsten!
Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.
Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.
Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.
Stille heißt Wendung zum Wesentlichen.
Wendung zum Wesentlichen heißt Ewigkeit (Gegenwart).
Erfahrung der Ewigkeit heißt Klarheit.

Eine Klarheit dieser Art wird wohl auch Willigis Jäger (W.J. II, S. 32 u. S. 46) bewogen haben, „Mystik“ wie folgt zu umschreiben:

In der Tat ist das Bild der Mystik im Westen stark verzeichnet worden. Dem Wort haftet ein Beigeschmack von Bigotterie und Exotik an, von Geheimnis und elitärer Heiligkeit. Genau das aber ist Mystik nicht. Und deshalb ist es zunächst einmal wichtig, deutlich zu machen, was Mystik tatsächlich ist, nämlich nichts anderes als die Realisation der Wirklichkeit…
„Unio Mystica“ ist der christliche Ausdruck für das Eintauchen in das kosmische, transmentale und transpersonale Eine. In anderen Religionen und Kulturkreisen haben sich für dieselbe Erfahrung andere Namen etabliert: Leerheit, Erleuchtung
, Befreiung, Satori, Nirvana, Samadhi und dergleichen mehr. Immer geht es dabei um dieselbe Erfahrung des reinen Seins, in der alles so ist, wie es ist, und so wie es ist, auch vollkommen ist.