Meister Eckhart: 7. Kapitel


Meister Eckhart ist kein Theist.

Dies ist nach dem bisher Gesagten ja kaum noch notwendig zu betonen. Und doch klingt es, so deutlich herausgesagt, leicht ungeheuerlich.
Jedenfalls ist diese Anschauung bei weitem nicht jedermanns Sache und jederfraus Gusto. Haben wir doch gelernt, welch kühne Kulturleistung es war, dass das Judentum bereits tausend Jahre v. Chr. zum Monotheismus durchgedrungen ist und ihn vehement verteidigt und durchstrukturiert hat. Das Christentum hatte da eine tragfähige, verpflichtende Basis.

Dabei ist, aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht, der Polytheismus dem, was als „göttlich“ erfahrbar oder bezeichenbar ist, viel näher: Die Gewalt, die Schönheit und Energie des Meeres z. B. mit dem Titan Okeanos oder dem Gott Poseidon mythisch Gestalt werden zu lassen oder das Sonnengestirn als Re, Helios oder Apollon zu benennen, ist da viel unverfänglicher, als einen personalen Gott zu dogmatisieren und sich vorzustellen, der im Himmel thront und wahlweise seinen Sohn oder den Engel Gabriel zur Jungfrau entsendet – oder am besten gleich alle beide. (Das soll wohlgemerkt kein Mythos sein!)
Helios ist real wie auch das Meer, und beide übersteigen in ihrer Dynamik die menschliche Möglichkeit unermesslich. Beide sind mit den Kriterien des Kosmos als Teil einer Ordnung ebenso zu beschreiben wie als Chaos bewirkend erfahrbar bzw. befürchtbar. – Der traditionelle monotheistische Gott ist dagegen naiv anthropomorph, ja eine unreflektierte Projektion.

Kein Wunder, wenn R.D. Precht (2015, S. 526) in seiner breit angelegten Philosophiegeschichte zu Meister Eckhart sagt:

Mit den Scharfsinnigen unter seinen Zeitgenossen teilt Eckhart allerdings das Unbehagen gegenüber allen naiven theologischen Aussagen. Die alte orientalische Geschichte von einem Schöpfer, der aus dem Nichts die Welt und den Menschen schuf, dann den Sündenfall Adams als Ursünde abspeicherte und nun nach eigenem Gutdünken den einen oder anderen Menschen erlöst, ist für Eckhart so unzumutbar wie für Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham. Und wie so viele andere hält Eckhart den Neuplatonismus für die deutlich intelligentere Lösung des Problems von Weltall, Erde und Mensch. Deshalb bemüht er sich darum, den Gott der Bibel als eine »Person« loszuwerden. Dasjenige, das alles schafft, durchdringt und erleuchtet, kann kein Wesen sein. Es ist nicht einmal etwas Seiendes.

Dabei bleibt es sich gleich, ob Eckhart erst nach seinem Studium der alten Philosophie für den tradierten persönlichen Gott keinen Platz mehr hatte, oder aus einem Ungenügen an den Gottesbildern seiner Zeit die Philosophie als Deutungsinstrument ergriff und von ihr nicht mehr ließ. Manchen heutigen Zeitgenossen wird es wohl eher in dieser letzteren Weise ergehen: Das theologische Unbehagen, auch an der Kirchlichkeit mit all ihren Facetten und Floskeln, ist schließlich groß – oft mit der bedauerlichen Konsequenz der Abkehr von aller Religiosität verbunden.

Eckhart macht es aber auch den auf Harmonie und Festhalten Bedachten in den Kirchen nicht leicht. Allzu locker geht diesen Christen ja die sich als modern gerierende Eloquenz von den Lippen, mit den tradierten Gottesbildern sei man nun ja längst fertig. Neue Kunst und Bildaussagen, ja eine neue Sprache bräuchten die Kirchen.

Nur das ist mit Meister Eckhart eben nicht zu machen. Er empfiehlt, nicht nur vom „gedachten Gott“ Abschied zu nehmen, sondern überhaupt von allen Bildern (1).
(Der byzantinische Mönch Dionysius Areopagita hatte hier im 6. Jahrh. bereits gute Vorarbeit geleistet).
Und wenn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrh. Dorothee Sölle (1968, S. 57) keck formuliert: „Lebte Christus heute, er wäre Atheist“ (gemeint ist Nicht- Theist), dann erntete sie auch heute noch Kopfschütteln und bekäme noch heute keine Professur an einer theologischen Fakultät. Meister Eckhart allerdings auch nicht.

(1) Denn du mußt wissen, daß sie (die Seele) innen frei und ledig ist von allen Vermittlungen und von allen Bildern, und dies ist (denn) auch der Grund dafür, daß Gott sich (unmittelbar) frei, ohne Bild oder Gleichnis mit ihr vereinigen kann.

Das, woran Eckhart als Mystiker zentral gelegen ist, nämlich das Göttliche im Menschen, im Selbst ebenso wie in Kosmos und Chaos zu erkennen, zu erfahren, zu wissen, geht nun wirklich mit einem personal gedachten Gott nicht. Dieser bleibt konsequenterweise immer ein außerweltliches Gegenüber oder ein übermenschliches Wesen (übernatürlich sowieso), zu dem die Liturgie durchgängig „Herr“ zu sagen vorgibt.
Eckhart will auch davon nichts mehr wissen (2). An vorangegangener Stelle wurde schon gezeigt, wie für Eckhart das, was die Christologie nach mühsamer Arbeit für Jesus Christus aussagt, im wesentlichen für den Menschen (3) generell gilt: Das Menschliche und das Göttliche sind in der mystischen Erfahrung untrennbar.
Dazu auch noch mal R. D. Precht (S. 528): „Durch die radikale Hinwendung auf uns selbst „gebären“ wir, wie Eckhart schreibt, Gott. Den eigenen Seelengrund auszuloten und vollständig eins mit ihm zu werden ist das göttlich- natürliche Ziel aller Menschen. Nichts anderes habe Christus in Vollendung getan. Deshalb nennen wir ihn ,Sohn Gottesʼ“.

(2) Im Hinblick darauf sollen wir auch nichts von Gott wie von einem Fremden begehren. Unser Herr sprach zu seinen Jüngern: »Ich habe euch nicht Knechte geheißen, sondern Freunde« (Joh.15, 14f.). Was irgend etwas vom andern begehrt, das ist »Knecht«, und was da lohnt, das ist »Herr«.

(Quint 7, S. 186)

(3) Alles, was die Heilige Schrift über Christus sagt, bewahrheitet sich völlig an jedem guten und göttlichen Menschen.

(Quint, S. 451)

Die Meister sagen gemeinhin, alle Menschen seien in ihrer Natur gleich edel. Ich aber sage wahrheitsgemäß: All das Gute, das alle Heiligen besessen haben und Maria, Gottes Mutter, und Christus nach seiner Menschheit, das ist mein Eigen in dieser Natur. Nun könntet ihrmich fragen: Da ich in dieser Natur alles habe, was Christus nach seiner Menschheit zu bieten vermag, woher kommt es dann, daß wir Christum erhöhen und als unsern Herrn und unsern Gott verehren; Das kommt daher, weil er ein Bote von Gott zu uns gewesen ist und uns unsere Seligkeit zugetragen hat. Die Seligkeit, die er uns zutrug, die war unser.

(Quint 6, S. 178)

Meister Eckhart ist nach seinen Schriften und Predigten also nicht nur kein Theist, sondern auch kein Christologe (Er verzichtet beispielsweise auf die Soteriologie als Erlösungslehre gänzlich!).

Nun wird man bei der Lektüre seiner Predigten feststellen, dass Eckhart selten das transpersonale Wort „Gottheit“ oder ähnliches verwendet, hingegen weitgehend „Gott“. Wenn wir z. B. den Ausspruch: „ …darum bitte ich Gott, dass er mich Gottes quitt mache“ (Quint, S. 308) betrachten, ist die Verwirrung groß. Quint lässt daher in seiner Übertragung aus dem Mittelhochdeutschen in solchen Fällen (die in den Predigten immer wieder auftauchen) einmal „Gott“ in Parenthese drucken, um deutlich zu machen, dass das gleiche Wort „Gott“ nicht das Gleiche bedeutet (4). Dann könnte der Leser den obigen Satz so verstehen: „Wir bitten das Göttliche, dass es uns gelingt, den gedachten und vorgestellten (mythologischen) Gott zu lassen“.

(4) Nun sagen wir, daß Gott, soweit er (lediglich) »Gott« ist, nicht das höchste Ziel der Kreatur ist. Denn so hohen Seinsrang hat (auch) die geringste Kreatur in Gott. Und wäre es so, daß.eine Fliege Vernunft hätte und auf dem Wege der Vernunft den ewigen Abgrund göttlichen Seins, aus dem sie gekommen ist, zu suchen vermöchte, so würden wir sagen, daß Gott mit alledem, was er als »Gott« ist, nicht (einmal) dieser Fliege Erfüllung und Genügen zu schaffen vermöchte.

(Quint 32, S. 305)

Wer Gott so, (d. h.) im Sein, hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar.

(Quint, S. 60)

..denn ehe die Kreaturen waren, war Gott (noch) nicht »Gott«: er war vielmehr, was er war. Als die Kreaturen wurden und sie ihr geschaffenes Sein empfingen, da war Gott nicht in sich selber Gott, sondern in den Kreaturen war er Gott.

(Quint 32, S. 305)

Aber selbst da ist noch ein Haken, denn wenn das Göttliche transpersonal ist, macht es keinen Sinn, um Eingreifen oder Wunscherfüllung zu bitten. Solche Widersprüche sind nun wohl weniger, wie komplizierte Geister diagnostizieren, paradox – eher ganz schlicht eine Unkorrektheit oder Schludrigkeit im Wortgebrauch, oder eine Anpassung an Ohren und Aufnahmefähigkeit der Adressaten, die vermeintlich oder tatsächlich immer nur jeweils einen neuen Gedanken erfassen und verarbeiten können.

Eckhart hat in seinen Predigten ständig in und aus zwei Welten geredet. Da war seine Philosophie und ihre adäquate Sprache einerseits, andererseits die Vorstellungswelt und Sprachkompetenz seiner ZuhörerInnen. So hat er notgedrungen sich häufig der traditionellen Denk- und Sprachmuster seiner Adressaten bedient, um überhaupt akzeptiert zu werden, die neue Botschaft jedoch so zu transportieren gewusst.
Immer wieder irritierend ist zum Beispiel die Tendenz Eckharts, einem traditionell gängigen Begriff eine (oft gegensätzliche) Bedeutung zu geben, z. B. „Erkennen“ für „verstandesmäßig rational Begreifen“ und „Erkennen“ als Synonym für „Intellekt“. Das erste empfiehlt er zu lassen, um für das andere offen zu sein, damit die Begegnung mit dem Göttlichen im Intellekt erfahrbar werden kann.

Auch klingt es widersprüchlich, wenn Eckhart vorgibt, das Göttliche ganz „ohne Weise“, Bilder und Namen zu denken, und an anderer Stelle unbefangen von „himmlischer Vater“, „Sohn gebären“ und „Ausfließen im Hl. Geist“ spricht u.a.m.
Er läßt den Zuhörer und Leser, vor allem den auf Eindeutigkeit programmierten, damit allein, herauszufinden, welche Bedeutung gerade gemeint ist. Aus dem Kontext wird dies dem geübteren Leser dann schon klar, aber besonders kundenfreundlich ist das nicht.

Glücklicherweise haben wir schließlich eine Fülle von Predigten und Texten, in denen wir an anderer Stelle die Klarstellung lesen können, z.B. dass Eckhart nie und nimmer Gott um etwas bitten (5) wolle.

(5) Ich dachte neulich darüber nach, ob ich von Gott etwas nehmen oder begehren wollte. Ich will es mir sehr wohl überlegen, denn wenn ich von Gott (etwas) nehmen würde, so wäre ich unter Gott wie ein Knecht und er im Geben wie ein Herr. So aber soll es mit uns nicht sein im ewigen Leben.

(Quint 7, S. 186)

Lobenswert und hilfreich kann da der schon erwähnte Dionysius Areopagita (zit. bei W. Jäger I, S. 45) sein, der von „Erste Ursache“ spricht (6) und in seinem Text das Wort „Gott“ mit seiner Unklarheit und Unschärfe gar nicht benutzt:

Die erste Ursache von allem ist weder Sein noch Leben; denn sie ist es ja gewesen, die Sein und Leben erst erschaffen hat. Die erste Ursache ist auch nicht Begriff oder Vernunft; denn sie ist es gewesen, die Begriffe und Vernunft erst erschaffen hat. Die erste Ursache ist auch nicht an einem bestimmten Ort zu finden, weder an einem Ort im Raum noch an einem Ort in den Gedanken. Denn jeder Ort ist ja nur ihr Geschöpf. Nichts in dieser Welt ist die erste Ursache.

(6) Gebt nun acht! Gott ist namenlos, denn von ihm kann niemand etwas aussagen oder erkennen. Darum sagt ein heidnischer Meister: Was wir von der ersten Ursache erkennen oder aussagen, das sind wir mehr selber, als daß es die erste Ursache wäre;

(Quint 42, S. 353)