Meister Eckhart ist kein Glaubensmann,
wenn wir in dieser Gestalt den pastoralen Profi (Hirten) fassen, der immer in Gefahr ist, die Menschen zu Schafen zu machen. Eckhart hat seine Zuhörer hingegen gefordert, manchmal (bis heute) auch überfordert, aber allemal, soweit sie bereits Schafsköpfe hatten, ermuntert, über die Hürden zu springen.
Er hält nichts von dem Generalappell kirchlicher Verkündigung, bei dem die Kirchenmänner angeblich Gottes Willen ganz genau kennen, ihn für die Gläubigen in Sprache bringen und als Handlungsanweisung mit Sanktionen belegen.
Für Eckhart grenzt so etwas an Blasphemie (1).
(1) Alles, was du da über deinen Gott denkst und sagst, das bist du mehr selber als er, du lästerst ihn, denn, was er wirklich ist, vermögen alle jene weisen Meister in Paris nicht zu sagen. Hätte ich auch einen Gott, den ich zu begreifen vermöchte, so wollte ich ihn niemals als meinen Gott erkennen. Drum schweig und klaffe nicht über ihn, behänge ihn nicht mit den Kleidern der Attribute und Eigenschaften, sondern nimm ihn »ohne Eigenschaft«, als er »ein überseiendes Sein und eine überseiende Nichtheit« ist.
(Quint Einltg., S. 32)
Man wird überhaupt das Wort Glauben im Sinne des Für- wahr- Haltens von „Geoffenbartem“ oder von Dogmatikern Behaupteten (was in vielen Fällen auf das Gleiche hinausläuft) nicht finden. Ihm geht es nicht um Einübung und Stärkung im Glauben, sondern um „Erkenntnis“ des Göttlichen. Dabei können Schrift und Tradition wohl helfen, soweit sie vernünftig interpretierbar sind – ja als Philosoph auf dem Lehrstuhl und in seinen lat. Schriften arbeitet er prätentiös daran (wie seine Scholastiker- Kollegen auch) die Vernünftigkeit von christlicher Botschaft und Bibel zu erweisen. Er sieht sich durchaus ganz im Dienst der Kirche damit.
So kommt Eckhart allerdings zu der Gewissheit, dass die Gottes- Begegnung, und primär darum geht es ihm, nicht eine Form des Glaubens, sondern der Vernunft (2) ist. Sie geschieht in und mittels des „Intellektes“, wo die reine Geistigkeit des Göttlichen mit der höchsten Stufe der Geistigkeit des Menschen kommunizieren. Für Eckhart ist z. B. die sakramentale Kommunion in der Messe nur Symbolakt für dieses Einswerden mit dem Göttlichen von Gleich zu Gleich, von Wort und Beiwort, von Vernunft und Vernünftigkeit, von Erkennen und Erkanntwerden im Seelengrund.
(2) Grobsinnige Leute müssen dies (einfach) glauben, die Erleuchteten müssen es wissen.
(Quint 25, S. 167)
Nicht davon bin ich selig, daß Gott gut ist. Ich will (auch) niemals danach begehren, daß Gott mich seligmache mit seiner Gutheit, denn das vermöchte er gar nicht zu tun. Davon allein bin ich selig, daß Gott vernünftig ist und ich dies erkenne.
(Quint 10, S. 198/99)
Bleibe ich in der Gutheit hängen…und nehme Gott, sofern er gut ist, so nehme ich die »Pforte«, nicht aber nehme ich Gott. Darum ist das Erkennen besser, denn es leitet die Liebe. Die Liebe aber weckt das Begehren, das Verlangen. Das Erkennen hingegen legt keinen einzigen Gedanken hinzu, vielmehr löst es ab und trennt sich ab und läuft vor und berührt Gott, wie er bloß ist, und erfaßt ihn einzig in seinem Sein.
(Quint 19, S. 238)
Da nun die Seele ein Vermögen hat, alle Dinge zu erkennen, deshalb ruht sie nimmer…Erkenntnis aber hat den Schlüssel und schließt auf und dringt und bricht durch und findet Gott unverhüllt.
(Quint 3, S. 166)
Dabei darf man sich nicht von einem möglichen Gegensatz von Höhe der Vernunft und Tiefe des Seelengrundes irritieren lassen. „Versinke denn, ich könnt auch sagen: steige“, sagt Johannes Tauler, oder: „Je tiefer, desto höher; denn hoch und tief ist da eins“ (Weilner 1961, S. 98).
Es geht immer um die Mitte der Person, die bildlich als Achse einer Kugel vorstellbar ist: Da die Kugel in Bewegung gerät, sind Oben und Unten, Rechts und Links ständig aufgehoben und neu konstituiert. Die Mitte aber, gar als Punkt verstanden, ist konstant.
Gott, das Göttliche, hingegen „ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist“, heißt es im „Buch der 24 Philosophen“ (ca. 12. Jahrh.), das bereits Eckhart gekannt und rezipiert hat.
Der Intellekt also ist bei Eckhart sehr viel mehr, als wir heute z.B. mit dem Wort „Intellektueller“ verbinden. Eckhart unterscheidet ratio und intellectus (3), die wir ja beide imm Deutschen mit Vernunft übersetzt finden. Für Eckhart ist die Verstandes- und Denk- Leistung der ratio eine der „niederen Kräfte der Seele“ (4). Sie steht stets im Dienste des Willens. Intellectus im Sinne Eckharts ist, wie das Präfix inter (intel) (= zwischen) schon besagt, die kommunikative Fähigkeit des Menschen, über sich hinaus zu gehen, zu transzendieren. Im Intellekt kann der Mensch, im Buber’schen Sinn, „begegnen“, nicht wie im Falle „Interesse“ von Ich zum Objekt (Es), sondern von Ich zu Du, von Subjekt zu Subjekt.
(3) Alles, was je aus Gott kam, das ist gestellt auf ein lauteres Wirken. Das dem Menschen zubestimmte Wirken aber ist: Lieben und Erkennen. Nun ist es eine Streitfrage, worin die Seligkeit vorzüglich liege. Etliche Meister haben gesagt, sie liege in der Liebe, andere sagen, sie liege in der Erkenntnis und in der Liebe, und die treffen‘s (schon) besser. Wir aber sagen, daß sie weder in der Erkenntnis (ratio) noch in der Liebe liege; es gibt vielmehr ein Etwas in der Seele (intellectus), aus dem Erkenntnis und Liebe ausfießen; es selbst erkennt und liebt nicht, wie‘ s die Kräfte der Seele tun. Wer dieses (Etwas) kennen lernt, der erkennt, worin die Seligkeit liegt. Es hat weder Vor noch Nach, und es wartet auf nichts Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren.
(Quint 32, S. 306)
(4) Nun schaut auf die niedersten Kräfte, deren sind drei. Die erste heißt Unterscheidungsvermögen, rationale.
Die zweite Kraft heißt die Zürnerin, irascibilis.
Die dritte Kraft heißt Begehren, concupiscibilis.
Der obersten Kräfte sind gleichfalls drei. Die erste heißt eine behaltende Kraft, memoria.
Die zweite heißt Vernunft, intellectus, das ist »Erkenntnis«, auf daß du Gott alle Zeit erkennest. Und wie? Du sollst ihn bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis. Soll ich aber Gott auf solche Weise unmittelbar erkennen, so muß ich schlechthin er, und er muß ich werden.Die dritte Kraft heißt Wille, voluntas.
(Quint 42, S. 354)
Gott, das Göttliche, kann niemals Objekt sein, es ist kein Gegen- Stand. Eckhart predigt nun, dass auch der Mensch nicht Objekt Gottes ist, er hat Teil am Göttlichen. Wenn das Göttliche „Sein“ schlechthin ist, dann hat der Mensch „Dasein“, also Anteil daran, wie das Wort selbst schon zum Ausdruck bringt.
Eckhart bringt das immer wieder ins Bild (5): Der Mensch ist nicht Abbild des Urbildes Gott – er ist Bild vom Bild, nicht geringer.
Das wird so in der Christologie von Jesus gesagt. – Eckhart sieht das für Mensch schlechthin gegeben, Jesus wird so als Vor- Bild verstanden.
(5) Es ist eine Kraft in der Seele, die Vernunft, die von Anbeginn an, sobald sie Gottes gewahr wird oder ihn schmeckt, fünf Eigenschaften an sich hat. Zum ersten…
(Quint 40, S. 345)
Fünftens: daß sie ein Bild ist. Wohlan, nun gebt scharf acht und behaltet dies wohl, – denn die ganze Predigt habt ihr darin (beschlossen). Bild und Urbild ist so völlig eins und miteinander vereint, daß man da keinerlei Unterschied erkennen kann. Man kann wohl das Feuer ohne die Hitze denken und die Hitze ohne das Feuer. Man kann wohl (auch) die Sonne ohne das Licht denken und das Licht ohne die Sonne. Aber man kann keinerlei Unterschied erkennen zwischen Bild und Urbild. Mehr noch sage ich: Gott mit seiner Allmächtigkeit vermag da keinerlei Unterschied zu erkennen…
Freilich ist dieser Anteil am Göttlichen bei Menschen meist wenig bewusst. Deshalb spricht Eckhart vom Göttlichen „Seelenfünklein“, das allerdings zum vollen Licht der Gottheit werden kann und sollte. Oder original ausgedrückt: „Als intellectus inquantum intellectus (divinus) = als Vernunft, insofern sie (göttliche) Vernunft ist, ist der Seelenfunke…zu verstehen“ (Haas 1984, S. 167).
Die Frage nach Gott ist bei Meister Eckhart also nicht „Wer oder wo ist Gott?“ sondern „Wo oder wie erfahre ich das Göttliche?“ Oder, noch weiter gefasst, „Was erscheint mir als göttlich?“ und in Steigerung dessen „Welche Bedeutsamkeit hat die Erkenntnis des Göttlichen für mich?“
Dieser Weg führt erkennbar in eine religiöse Individualität, wie die Mystik überhaupt eine Sache der „Persönlichen Bedeutsamkeit“ ist, einem Betroffensein, das nicht machbar ist.