Meister Eckhart ist kein Moralist.
Mit Moral hat sich Eckhart in seinen Schriften und Predigten nicht sonderlich beschäftigt. Und noch weniger, ja schon gar nicht, sich für Moral echauffiert. Er nahm die kirchliche Morallehre offenbar als gegeben hin wie beispielsweise die kirchliche Architektur, die zu seiner Zeit im Stil der Gotik baute.
Dabei gab es im hohen Mittelalter genug Prediger, die Sünde und Erlösung zum zentralen Anliegen der kirchlichen Verkündigung gemacht hatten. Und der Patriarch der Unmoral und des Schuldigwerdens gegen Gott, der „Teufel“, hatte Hochkonjunktur. Schließlich gab es gerade auch in Eckharts Dominikanerorden, der ja eigentlich Predigerorden (OP) heißt, genug Moralisten, die den Leuten des Volkes die Hölle heiß gemacht haben.
In Eckharts Theologie und Eschatologie gab es hingegen für die Hölle keinen Platz mehr – nur redensartlich erwähnt er sie. Wenn nämlich der Mensch in sich konstitutiv einen Anteil am Göttlichen hat – das „Seelenfünklein“, dann kann folgerichtig kein Mensch in die absolute Gottesferne verworfen werden.
Moral als konkrete Handlungs- Richtigkeit lag also unterhalb der Interessenssphäre Eckharts. Er sagt nicht viel über Richtiges (Tun), ihm geht es ja gerade ums Lassen (1). Auch alles geistlich Zweckgerichtete sollen die Menschen getrost lassen, sofern dies als Kalkül auf den Himmel vollbracht wird (2).
(1) Du mußt wissen, daß sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, daß er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind. Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, dafern du in allen Dingen dich des Deinen völlig entäußerst. Damit heb an, und laß dich dies alles kosten, was du aufzubringen vermagst. Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst.
(Quint, S. 57)
…Sie stehen so fest in der Gerechtigkeit und haben sich so gänzlich ihrer selbst entäußert, daß sie weder die Pein der Hölle noch die Freude des Himmelreiches noch irgend etwas beachten.
(Quint 7, S. 183)
(2) Alle Dinge, die in der Zeit sind, die haben ein Warum. Wer beispielsweise einen Menschen fragte: »Warum issest du« – »Damit ich Kraft habe!« – »Warum schläfst du?« – »Zu demselbenZweck!« Und so steht es mit allen Dingen, die in der Zeit sind. Wer aber einen guten Menschen fragte: »Warum liebst du Gott?« – »Ich weiß es nicht, – um Gottes willen!« – »Warum liebst du die Wahrheit?« »Um der Wahrheit willen!« – »Warum liebst du die Gerechtigkeit?« – » Um der Gerechtigkeit willen!« – »Warum liebst du die Gutheit ?« – »Um der Gutheit willen!« – »Warum lebst du?« – »Traun, ich weiß es nicht! ( Aber) ich lebe gerne!«
(Quint 49, S. 384)
Vom Ontologen zum Ethiker ist es somit schon ein Stück Weg, und so ist Eckharts Ethik auch stark von seiner Gotteslehre her geprägt, wenn er sagt, dass den Christen nicht primär das Handeln zu heiligen sei, sondern das Sein (3).
Dies ist allerdings weit von einer Richtigkeits- Ideologie entfernt, wie sie bis in unsere Tage in Rom propagiert wird, wo für diese Disziplin eine ganze Korona arbeitet, die sich bis inkl. Papst Benedikt höchster Wertschätzung erfreute.
(3) Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären. Wären nun aber die Leute gut und ihre Weise, so könnten ihre Werke hell leuchten. Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht. Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen. Wie heilig die Werke immer sein mögen, so heiligen sie uns ganz und gar nicht, soweit sie Werke sind, sondern: soweit wir heilig sind und Sein besitzen, soweit heiligen wir alle unsere Werke, es sei Essen, Schlafen, Wachen oder was immer es sei. Die nicht großen Seins sind, welche Werke die auch wirken, da wird nichts daraus.
(Quint, S. 57)
Das einzige, was für Eckhart wert ist, als Wert befolgt zu werden, ist die Gelassenheit (4). Und das einzige was wert ist, als Ziel angestrebt zu werden, ist die Abgeschiedenheit (5). Das als Ethik oder gar Moral zu bezeichnen, ist so ungewöhnlich wie Eckhart eben unkonventionell denkt und redet. In seiner „Lebensphilosophie“ orientiert er sich im
Übrigen deutlich an der Stoa.
(4) Die Leute, die da Frieden suchen in äußeren Dingen, sei‘s an Stätten oder in Weisen, bei Leuten oder in Werken, in der Fremde oder in Armut oder in Erniedrigung – wie eindrucksvoll oder was es auch sei, das ist dennoch alles nichts und gibt keinen Frieden. Sie suchen völlig verkehrt, die so suchen. Je weiter weg sie in die Ferne schweifen, um so weniger fnden sie, was sie suchen. Sie gehen wie einer, der den Weg verfehlt: je weiter der geht, umso mehr geht er in die Irre. Aber, was soll er denn tun. Er soll zuerst sich selbst lassen, dann hat er alles gelassen.
(Quint, S. 55)
(5) Abgeschiedene Lauterkeit kann nicht beten, denn wer betet, der begehrt etwas von Gott, das ihm zuteil werden sollte, oder aber begehrt, dass ihm Gott etwas abnehme. Nun begehrt das abgeschiedene Herz gar nichts, es hat auch gar nichts, dessen es gerne ledig wäre. Deshalb steht es ledig allen Gebetes, und sein Gebet ist nichts anderes als einförmig zu sein mit Gott. Das macht sein ganzes Gebet aus.
(W. Jäger III, S. 35)
Die Abgeschiedenheit als „Programm“ Eckharts wurde ja schon an früherer Stelle genannt, als Übersetzung des lat. abstractum. Vielleicht kann es zum Verständnis beitragen, wenn ein Bezugsbogen zu Jesu Predigt vom Reich Gottes (6) geschlagen wird. Auch diese Botschaft redet ja von einem abstractum, und alle Versuche, es konkret vorführbar machen zu wollen – gar als verwirklicht in der Kirche – müssen scheitern. Jesus selbst hat, soweit wir den Evangelisten trauen, auf eine Definition verzichtet, weil sie offenbar gar nicht möglich ist. So überliefert uns ja gerade Matthäus eine Fülle von Gleichnissen vom Reich Gottes, riskiert dann aber leider gleichzeitig, dass seine Formulierung vom „Reich der Himmel“ mächtig missverstanden wurde, als sei es erst nach dem Tod im Himmel zu verwirklichen und zu erleben.
So auch mit Eckharts Abgeschiedenheit, bei der ja, nach allem Gelassen- Haben nur noch der „Wille Gottes“ (7) herrscht, der Mensch aus einem „guten Sein“ lebt und vor Gott gar nicht schuldig werden kann. Für Eckhart ist das „der Gerechte“ (8).
(6) Wenn ich über »Gottes Reich« nachdenke, dann läßt mich das oft verstummen ob seiner Größe. Denn »Gottes Reich«, das ist Gott selber mit seinem ganzen Reichtum. »Gottes Reich« ist kein kleines Ding: Stellte man sich alle Welten vor, die Gott erschaffen könnte: das ist Gottes Reich nicht! Ich pflege zuweilen ein Wort zu sagen: In welcher Seele »Gottes Reich« sichtbar wird und welche »Gottes Reich« als ihr »nahe« kennt, der braucht man nicht zu predigen noch Belehrung zu geben: sie wird dadurch belehrt und des ewigen Lebens versichert. Wer weiß und erkennet, wie »nahe« ihm »Gottes Reich« ist, der kann mit Jakob sagen: »Gott ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht« (1Mos. 28, 16); nun aber weiß ich‘s.
(Quint 36, S. 324)
(7) Mir kam neulich der Gedanke: Wollte Gott nicht wie ich, so wollte ich doch wie er. Manche Leute wollen in allen Dingen ihren eigenen Willen haben; das ist böse, es steckt ein Makel darin. Die anderen sind ein wenig besser: die wollen wohl, was Gott will, und gegen seinen Willen wollen sie nichts; wären sie aber krank, so wollten sie wohl, es möchte Gottes Wille sein, daß sie gesund wären. So wollten also diese Leute lieber, daß Gott nach ihrem Willen wollte, als daß sie nach seinem Willen wollten. Man muß es hingehen lassen, es ist aber das Rechte nicht. Die Gerechten haben überhaupt keinen Willen; was Gott will, das gilt ihnen alles gleich, wie groß das Ungemach auch sei.
(Quint 7, S. 183)
(8) Das ist ein gerechter Mensch, der in die Gerechtigkeit eingebildet und übergebildet ist. Der Gerechte lebt in Gott und Gott in ihm, denn Gott wird geboren in dem Gerechten und der Gerechte in Gott; und darum wird Gott durch eine jegliche Tugend des Gerechten geboren und wird erfreut…
(Quint 25, S. 267)
Dergleichen: In jedem Werk, auch im bösen, im Übel der Strafe ebenso wie im Übel der Schuld, offenbart sich und erstrahlt gleichermaßen Gottes Herrlichkeit.
(Quint, S. 450)