16. August 2020


Nichts

Zuweilen ist es besser, eine Begründung weder zu erwarten noch sie geben zu wollen. Speziell dann empfiehlt es sich, wenn es zum Wesen einer Erscheinung gehört, unbegründbar weil unergründbar zu sein.

Der byzantinische Mönch Dionysios Areopagita (um 500) wagt sich in seinem neuplatonisch motivierten Text sehr weit, wenn er seine später so genannte theologia negativa entwirft.

Die erste Ursache von allem ist weder Sein noch Leben; denn sie ist es ja gewesen, die Sein und Leben erst erschaffen hat. Die erste Ursache ist auch nicht Begriff oder Vernunft: denn sie ist es gewesen, die Begriffe und Vernunft erst erschaffen hat. Die erste Ursache ist auch nicht an einem bestimmten Ort zu finden, weder an einem Ort im Raum noch an einem Ort in den Gedanken. Denn jeder Ort ist ja nur ihr Geschöpf. Nichts in dieser Welt ist die erste Ursache.

Das ist ein beachtlicher Text, heute wie in dieser frühen Zeit des Christentums. Er ist zwar ungehindert durch die Jahrhunderte tradiert worden, hat aber nicht ernstlich in die traditionelle Gotteslehre Eingang gefunden.
Das liegt aber nicht an der logischen Inkonsequenz, die eben durch die Neigung zur Begründung dem pseudonymen Mönch passiert ist:
„…denn sie war es ja, die (dies alles) erschaffen hat“; so versucht der Autor, seine kühne Gottesrede zu rechtfertigen. Leider nimmt er damit aber seiner Aussage die Geschlossenheit:
Wenn „Gott“ alles das, was hier aufgezählt wird, nicht ist, weil von „dieser Welt“, dann ist er doch schon gar nicht der Macher und Schöpfer aller Dinge, wie dies biblisch sehr anthropomorph gedacht und beschrieben ist.
Der Schlußsatz zu der obigen Sequenz des Dionysios könnte heute also folgerichtig lauten: „Und sie (die erste Ursache) ist auch nicht Schöpfer dieser Welt“. Die Welt ist, so wissen wir zumal heute, eher geworden als geschaffen.

Auch die Erste Ursache (gr. hypostasis) ist als negative Gottesbezeichnung angreifbar. Sie bleibt immer noch eine „Sache“, also dinglich innerweltlich Seiendes.
Konsequent ist da z.B. im 17. Jahrhundert Jakob Böhme, wenn er vom Göttlichen statt vom Ur-Grund vom Un-Grund spricht.
Weder Schöpfer noch Ursache passen also in den Kontext der negativen Gottesrede. In Anlehnung an Böhme wäre vielleicht neuerlich von „Un-Sache“ zu reden.

Lässt man nunmehr bei der Lektüre des Dionysios-Textes die eingestreuten Begründungen weg, führt die Reihe der Verneinungen, die ja selbst abstracta wie Leben und Sein, Vernunft und Begriff beinhaltet, zu einer absoluten Leerstelle. Es bleibt tatsächlich nichts mehr, mit dem „Gott“ ausgesagt werden könnte, ja, es bleibt nur noch das Nichts.
Das konnten naturgemäß weder Dionysios in seiner Zeit denken und schreiben noch beispielsweise sehr viel später die Deisten der europäischen Aufklärung.
Auf Gott als erster Ursache oder höchster Intelligenz war nicht zu verzichten.
Auch die frühen griechischen Mythographen waren ja bei der Ursachen-Forschung nur bis zum Chaos gekommen. Dass das Chaos, wie die anderen mythischen Schöpfungsgestalten, schließlich aus dem Nichts hervorgegangen sein müssten, war zu der Zeit nicht formulierbar, denn Nichts war bislang eben nichts.

Erst mit dem „Tode Gottes“ gähnt nicht nur seinen Autor Nietzsche die Leere an, allerdings verbunden mit dem Impuls, neu und weiter zu denken und die bislang heiligen Dinge reflexiv und offensiv selbst in die Hand zu nehmen.

Ein sehr tiefsinniger Autor wie Bernhard Welte (1906 – 1983) versucht nun hier, eine nachvollziehbare Denkweise zu vermitteln. In geistiger (auch zeitlicher und räumlicher) Nähe zu Heidegger spricht er ganz unbefangen vom Nichts.
Er nennt es in seiner „Religionsphilosophie“ (1978) zunächst Nichtsein und setzt es als Negation von Dasein. Jedes menschliche Dasein war erklärtermaßen einmal nicht und wird mit absoluter Sicherheit einmal nicht mehr sein. Alles Seiende komnt also aus dem Nichts und geht nach einer Lebensspanne zurück ins Nichts.
Mit Heidegger erklärt Welte da her auch die Urangst des Menschen eben mit dieser Tatsache: Das Wissen und Ahnen des Fallens in das Nichts ist latent immer gegenwärtig und berührt ungut. Die Unausweichlichkeit des Todes ängstigt. Daher verdrängt der Mensch diese Zukunftperspektive so gut (oder so schlecht) er kann, wahlweise durch Arbeit, Geschäftigkeit, Lärm und Bagatellen. Für Welte zeigt sich hier die „Macht“ des Nichts. Es macht mit uns, was wir nicht können und wollen, bis hin zur Nichtung der Existenz selbst.

Einerseits war also Dionysios in seinem Bemühen, Gott als den ganz Anderen, Außerweltlichen darzustellen, so faktisch zum Nichts als Aussageform des Göttlichen gekommen Andererseits waren und sind es zahlreiche Religionskundler, die gerade in dem Erfahrungsfeld von Tod und Nichtung einen Ursprungsort von Religion überhaupt sehen: Priester und Religionsstifter gingen den umgekehrten Weg und setzten eine Gottesfigur anstelle des Nichts, boten damit eine metaphysische Sicherheit und versprachen, dass mit dem Tod eben nicht alles aus sei. Im Übrigen ist der Gott dann auch im Dasein aller Nichtigkeit überlegen.

Anders kann Welte weitere Qualitäten des Nichts benennen – natürlich nicht im Sinne von Ding und Sache, sondern als Denkfigur und Wirkgröße.
Das Nichts also ist, wie vergleichsweise der Weltraum, konsequenterweise unausmessbar und größer als alles Seiende auf der Erde und anderswo, es hat auch zeitlich weder Anfang noch Ende. Es ist ewig.

In seiner Wirkung auf das Dasein ist es unbedingt und endgültig und somit allem übermächtig. Daraus erhellt, dass das Nichts nicht nur denkbar, sondern tatsächlich erfahrbar ist. Nicht nur in der Erfahrung des Todes, sondern auch des Lebens, wenn auch meist negativ konnotiert.
Die „Schwestern“ des Nichts z.B, die Stille und die Leere, werden gemieden, und wo das nicht möglich ist, zuweilen als unerträglich empfunden.

Umgekehrt kann die Erfahrung des Nichts aber auch gesucht und gefunden werden – eben an Orten und Situationen der Leere und Stille. Der klassische Ort in unserer semitischgeprägten Religionskultur ist die Wüste, für den Mitteleuropäer ist das der Wald, ohne den kein Märchen auskommt, für die Küstenbewohner das Meer.
Schließlich sind die Erfahrungen des Nichts im Leben, die vielen zu erlebenden Nichtigkeiten, geradezu die Voraussetzung der Wertschätzung von Sinn. Aus der oft leidvollen Betroffenheit durch das Nichtsein generiert sich der Wille zum Sinn des Daseins.

Aufs Ganze gesehen ist so das Nichts die Bedingung der Möglichkeit von Allem: es gebiert, wie Lao Tse sagt, das Sein, es bedingt alles Seiende. Umgekehrt verweist das Sein notwendig auf das Nicht-sein, wie das Helle auf das Dunkele, und das Laute nur als solches bewusst und benennbar wird aufgrund der Erfahrung und des Wissens um das Leise.

Wenn wir nun also, geleitet vom Mönch Dionysios, auf der Suche nach einer vertretbaren Gottes-Benennung beim Nichts angekommen sind, waren wir offenbar nicht schlecht beraten: Alle Aussagen über das Nichts sind auch vom Göttlichen zu machen, wie auch vom Sein, das ja wiederum das Nichtsein voraussetzt.

Schaffe Leere bis zum Höchsten!
Wahre die Stille bis zum Völligsten?
Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.
Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.
Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.
Stille heißt Wendung zum Wesentlichen.
Wendung zum Wesentlichen heißt Ewigkeit (Gegenwart).
Erfahrung der Ewigkeit heißt Klarheit.

LAOTSE
TAO TE KNG
Das Buch vom Sinn und Leben

München 1910 / 1998

Dionysios Areopagita, Mystische Theologie, München, 1956
(In seinem Buch „Über die göttlichen Namen“ spricht der Autor selbst auch über „Nichtsein“ u.“Ewiges Nichts“.)