Postludium
(Nachspiel als Satire)
Auf der Suche nach einem alten Photo hatte ich auf dem Dachboden meine Schatzkiste (in der äußeren Gestalt einer Umzugskiste der Firma Meyer & Meyer) hervorgezogen und Schicht um Schicht durch Papiere, Zeitschriften und Bilder eine Reise in die biographische Vergangenheit getan.
Als ich schon bei Referaten und Texten aus dem Studium angelangt war, ohne bildfündig geworden zu sein, lag da ganz zu unterst noch ein Text aus der Schulzeit, mit einer verrosteten Büroklammer zusammengehalten. Eine Hausarbeit offenbar. Beim flüchtigen, dann aber interessierten Draufschauen kam mit jedoch in Erinnerung, dass es mit diesem Text eine skurile Bewandtnis hatte.
Ich hatte im Oberstufen-Philosophieunterricht eine Klausur verpasst, die nachgeschrieben werden musste. Das Thema beim Nachholtermin war „Die Voraussetzungen der Voraussetzungslosigkeit“, eine Aufgabe, die mir nicht sonderlich Mühe bereitet hatte, wir hatten derlei denkerische Tüfteleien im Unterricht geübt.
Leider hatte es dann aber doch nur zu einer 2 – gereicht, weil ich die teleologische Dimension des „Voraus“ nicht ausreichend ausgelotet hatte.
Das Thema aber, zu dem meine Klasse geschrieben hatte, lautete „Über das Nichtvorhandensein des Nichts“. Da hätte ich gern brillieren wollen, denn das war von deutlich anderem Kaliber. Da das Schuljahr ohnehin zu Ende ging und mich meine Zweiminus wurmte, setzte ich mich also bald darauf zuhause hin und schrieb die Klausur nach – zunächst mal nur für mich, nicht ahnend, dass ich sie nach mehr als einem halben Jahrhundert wieder lesen würde.
Das schöne Wort NichtvorhandenSein hatte ich da von hinten her aufgerollt, indem ich das Wort „Sein“ vor dem inneren Auge schon mal gesondert und groß schrieb. Ach ja, das Sein Es besagt ja, wie das Göttliche auch, alles und nichts. Es macht das Dasein zu dem, was es ist, und das Sosein eben auch. Spannend wird es beim Nichtsein, da ist es selbst in der Verneinung existent.
In all solchen Seins-Verbindungen ist somit das Sein vorhanden.
Auf meinem Rückwärtsweg durch das Grundwort „Nichtvorhandensein“ hatte ich dann das Wort Hand betrachtet. Vorhanden oder „, vor der Hand“ heißt in diesem Zusammenhang dann wohl: Das Sein lockt die Hand zu ihrem Lieblingstun, dem Greifen, näher hin zum Be-greifen. Da stockt allerdings der Gedankenfluß, denn das Sein läßt sich nicht begreifen, die Hand greift ins Leere. Das Sein ist nicht, wie Heidegger sagt, zu-handen. Es entzieht sich dem Handling. Prima! Endlich mal eine Grenze für das Handhabbare und Machbare!
Wenn ich das Grundwort nun zuende aufrolle, komme ich nunmehr zum „nicht“ und entdecke sogleich den Widerspruch in der ganzen Formulierung: Das Grundwort macht nur Sinn im vulgären Verständnis, dass etwas nicht Greifbares, empirisch nicht Wahrnehmbares, deswegen auch nicht vorhanden sei.
Letztendlich bezieht sich das , Nichtvorhandensein“ nun auf das „Nichts“. Aber auch in diesem Bezug ist das Ausschließende des „nicht“ gänzlich unangebracht. Nehme ich nämlich „Nichts“ als „Nichtsein“, dann signalisiert der Wortzusammenhang mit Sein allein schon ein grundsätzliches Vorhanden. Es ist nur nicht greifbar, ja nicht einmal da, aber es ist, wie das Sein, bloß eben hier in der Negierung.
„Sein und Nichtsein erzeugen einander“ schreibt Laotse schon im 6. Jahrhundert v. Chr. Und „Nichtsein nenne ich den Anfang von Himmel und Erde. Sein nenne ich die Mutter der Einzelwesen“. Dahinter bleibt denn auch die christliche Dogmatik nur wenig zurück, wenn sie definiert, der Jahwe-Gott habe die Welt „ex nihilo“ erschaffen. Kein Nichtsein ohne Sein also, und kein Sein ohne Nichtsein!
So und in weiteren Bezügen zur Literatur hatte ich dann die Themenstellung der Klausur als Finte entlatvt. Eine reizvolle Aufgabe, den Widerspruch zu üben, für einen jungen Geist. Den fertigen Text allerdings wollte niemand lesen. Der Philosophie-Lehrer klagte über die noch nicht fertig korrigierten Klausuren, der von mir sehr verehrte Deutsch-Lehrer verschanzte sich hinter einem Berg von Abi-Zweitkorrekturen.
Meine Mitschüler winkten dankend ab. Sie hatten meist das Thema schon vergessen, und was sie geschrieben hatten auch. Mein Banknachbar belehrte mich überdies, dass Klausuren zu schreiben seien und eben nicht zu lesen.
Rückblickend zeichnet sich hier also schon für die Zukunft ab (die inzwischen ja eingetroffen ist), was Heidegger bereits in den Zwanzigerjahren als „,Seinsvergessenheit“ beklagt hatte.
Die LEUTE
begreifen nur,
was sie begreifen,
erfassen nur,
was sie anfassen
können.
sehen nur,
was sie kennen.