Das Göttliche
Es ist nun wohl an der Zeit, einen Gedanken deutlich auszusprechen und weiter zu denken, der implizit in den vorangegangenen Texten bereits transportiert und andeutungsweise vernehmbar war, der im Übrigen spätestens seit Nietzsche im öffentlichen Diskurs ist.
Der naheliegende Gedanke ist erstenteils, dass bei allem Kursieren um die Begriffe Chaos, Eros, Advent und Zufall der traditionelle christliche Gott mahnend am Horizont steht. Nur noch am Horizont steht er, weil in dem Feld zwischen mir und dem Abschluss des Gesichtskreises das, was herkömmlich als sein göttliches Wirken und seine Zuständigkeit gelehrt und geglaubt worden ist, andere Wirkgrößen übernommen, bzw. immer schon besessen haben, eben der Zufall, die Intuition und das kreative Chaos.
Es war offenbar eine naive Illusion gewesen, zu glauben, der Jahwe-Gott (als Vorläufer für den Christen-Gott) habe mit den Schöpfungstaten das Chaos besiegt und vernichtet. Oder in einer anderen Version: er habe es einer negativen Macht, nämlich dem Teufel, überlassen. Das Chaos hingegen ist quicklebendig, in grandioser Überzeitlichkeit ewig, und schon gar nicht teuflisch, wie in vorangegangenen Texten mehrfach gezeigt – und der monotheistische Gott hat die Welt verloren.
Interessant ist es dennoch aufzuzeigen, dass und wie in der kirchlichen Gottes-Kunde und Gottes-Fixierung Eigenschaften und Verhaltensweisen dieses alten Herrn justement den Erfahrungen, die wir mit Chaos, Eros, Zufall haben, gleichen: Tranzendentes muss eben immer auch mit dem welt-immanenten Erleben der Vielen korrelieren.
Wenn es beispielsweise im Volksmund heißt: „Gott schreibt gerade, auch auf krummen Zeilen“, dann heißt das doch nichts Anderes, als dass der Zufall in stringentester Weise das Geschehen bestimmt, ob ich ihm eine gerade oder krumme Logik unterlege oder gleich ganz auf ein nachträgliches Begründen-Wollen verzichte.
Und wenn es in der Gottes-Lehre heißt, Gott sei kein Ding oder Wesen, das empirisch erfassbar wäre, er sei durch seine Wirkung und Be-wirkung (Schöpfung) erklärbar, dann muss dasgleiche zunächst einmal vom Chaos gesagt werden.
Wie auch schon oben dargelegt, „gibt“ es das Chaos ja tatsächlich nicht. Es ist eine Denkfigur (Mythos) für das, was alles hervorbringt, also wohl auch keim- oder ideen-haft beinhaltet, letztlich vielleicht die Urformel der Evolution.
Auch wenn wir sagen: „Der Mensch denkt und Gott lenkt“, ist das nicht gerade eine theologische Formel, aber ein genial treffsicherer Aphorismus über die Alltags-Erfahrungen mit dem geglaubten Gott. Der Satz kann beliebig wiederholt werden mit wechselnden Verben: Der Mensch betet, und… Der Mensch definiert Gott, und… Der Mensch vertraut, und… usw. Auf „Gott“ ist demnach wirklich kein Verlass. Dieser Gott, der „lenkt“, ist doch schlichtweg die unbeirrbare Gesetzmäßigkeit der Natur (wie im Pantheismus Spinozas oder der Stoiker), also das, was immer wieder und ständig erfolgt und dem man neidlos sagen muss: „Das hätte ich nicht gedacht!“
Jetzt fehlt wirklich nicht mehr viel, und wir sagen: Der Gott der Kirchen und ihrer Dogmatik, zu dem immer noch „Vater unser“ gesagt wird, dem gesungen und künstlerisch bedeutsame Messen aufgeführt und zelebriert werden, dem geräuchert und prozessioniert wird, dem sublimiert Opfer gebracht und von dem gleichermaßen Trost wie Schrecken verkündet und verbreitet werden, dieser Gott also ist nicht sehr exklusiv, er ist ein Mythos, wie all die anderen Göttergestalten auch.
(Dass Mythen gleichwohl kulturprägend sein können und waren, wird hier allerdings nicht bestritten.)
Wenn ich folglich die in den Himmel projizierten menschlichen Sehnsüchte, Erlösungshoffnungen und Erbaulichkeiten als solche durchschaue und die leeren Hände der Vielen betrachte, die gen Himmel gestreckt und die leer blieben, dann ist es wohl allemal vernünftiger, das ernst und für Wirklichkeit zu nehmen, was ohne menschliche Projektionen und theatralische Suggestionen ohnehin und immer geschieht, aus dem Nichts hereinbricht und einfach da ist, der göttliche Zufall. Er ist eine unbegrenzbare, unergründbare, unbeherrschbare und unverstehbare Macht.