Abenteuer
Zum Advent geht mir immer wieder allerlei Widersprüchliches durch Kopf und Gemüt.
Ich hatte schließlich einmal gelernt, dass das lat. Wort „adventus“ Ankunft heißt, hier in der Bedeutung Ankommen des Göttlichen in der Welt, wie es dann zum Ende der Weihnachtszeit an Dreikönig ins gr. Wort gebracht wird: „epiphanias“, Erscheinung des Herrn. Nun wird in der christlichen Lehre ja behauptet, dass eben dieser „Herr“, der an Weihnachten geborene und dann nach kurzem Leben und Kreuzestod zum Himmel zurückgekehrte Gottessohn ist, der (als Gott) gleichwohl nicht aus der Welt, sondern ständig gegenwärtig sei.
Da beobachte und erlebe ich nun von Jahr zu Jahr, dass dieses sogenannte Religiöse mächtig außer Bewusstheit und Übung gekommen ist. Die Leute tun sich schwer, einen 2000 Jahre alten Mythos zum Grund des Feierns zu machen und dabei auch noch eine komplizierte theologische Deutung verstehen und sich vorstellen zu sollen.
Da wird denn eher und weitaus mehrheitlich eine andere Bedeutung von Ankunft brauchtumsmäßig begangen: die Ankunft des Jahreslaufs am Ende des Dezember, dem letzten Monat, mit Winter und Schnee. Oder die Ankunft der Sonne in ihrer tiefsten Position und den Beginn ihres Wiederaufstiegs. Schließlich ganz lapidar die Ankunft des vom Endspurt gehetzten Menschen in den freien Tagen von Weihnachten. Advent ist so zu vier Wochen Weihnachtszeit geworden. Wie ein Eisenbahnzug am Bestimmungsbahnhof ankommt und die Fahrgäste aussteigen müssen, wird Weihnachten somit ein temporäres Aussteigen aus dem Alltag mit aller Festlichkeit und Gemütlichkeit.
Doch der Zug des neuen Jahres steht schon auf dem Gleis. Auch in dieser Hinsicht sind also Advent und Weihnachten nicht wirklich Ankunft, sondern nur Zwischenstopp, und aus dem Aussteigen wird schnell ein Umsteigen: „Viel Glück im neuen Jahr“, mit viel Juché und reichlich Krach.
Wenn ich nun aber mal still verhalte und auf den Sinn zu kommen trachte, zeigt sich mir für das Wort Advent ein vielleicht neuer oder noch älterer Sinn, eine Bedeutung eigener Art.
Es ist ja nicht so dass ich, um Ankunft zu erleben, jedes Jahr bis Advent warten müsste. Die Ankünfte drängen sich, je nach Wahrnehmungsbereitschaft rund ums Jahr in schöner Folge. Und zwar nicht nur in der Weise, dass ich immer ankäme (dafür ist mein Geburtstag reserviert), sondern dass bei mir etwas ankommt, mir zufällt oder zustößt, mir mitgeteilt oder übel mitgespielt wird oder etwas schlichtweg gegeben ist.
Das lat. Wort „datum“ heißt ja das Gegebene. Wie im Kalender die Daten gegeben sind, so geht es mir täglich mit anderen Daten und Gegebenheiten. Wa mir da beschert wird, habe ich sicherlich nicht geplant und nicht erarbeitet, nicht gesucht oder erwartet, bestenfalls erhofft oder befürchtet.
Wir nennen das Zufall oder Geschick, auch Schicksal. Dabei ist bei der Wortnutzung jeweils deutlich die generelle Einstellung der so Redenden erkennbar: Wer von Geschick spricht, nimmt immerhin (vielleicht nur unbewusst) eine Gestalt als Verursacher der Schickung an, vielleicht ja auch eine göttliche Person.
Der Zufall hingegen hat keinen Absender. Da fällt etwas in mein Leben als nunmehr gegeben und ich mag zusehen, wie ich damit umgehe. Ich kann nach Gründen forschen oder mir selbst Vorwürfe oder Verdienste zurechnen, aber überzeugend ist das nicht.
„Es ist wie es ist“, sagt Erich Fried und meint damit wohl, „…lass das Erklären-Wollen, es ist nicht zu begreifen.“
Darüber kann man sich ärgern, weil da immer wieder etwas nicht Unwesentliches ist, das man nicht in der Hand hat, und niemand festzumachen ist, den man in Verantwortung nehmen könnte.
Viele Leute halten dann doch lieber aus Gewohnheit, Opportunismus, aus Sehnsucht nach Geborgenheit oder Verbissenheit daran fest, dass alles, was geschah und geschieht, von Göttern und höheren Mächten, in unseren Breiten vom gütigen Christen-Gott, erschaffen und gelenkt wurde und wird.
Das kann so angenehm beruhigend sein, dass selbst im Tod, dem letzten Zufall und der letzten Ankunft im Leben des Menschen, der geglaubte und imaginierte Gott seine Hand im Spiel hat, beängstigend oder tröstend, je nach kirchlicher Prägung.
Doch vernünftig ist das nicht!
Nun steht nirgends geschrieben, dass der Mensch seine Vernunft gebrauchen müsste, auch wenn Kant sich zuweilen so liest. Es hat hingegen sehr wohl Zeiten gegeben, in denen der Gebrauch der Vernunft unerwünscht, diffamiert und auch verboten war. Vielleicht rührt da her, dass es immer noch leicht anrüchig ist, unkonventionell vernünftig zu denken und zu reden.
Das soll nun hier einmal am Beispiel „Zufall“ versucht werden.
Da ist zunächst zu konstatieren, dass es eine ganze Reihe von „Fall“-Wörtern und den zugehörigen Erfahrungen gibt, die tendentiell alle negativ konnotiert werden.
Neben dem Zufall steht da gleich der Unfall. Nahe verwandt sind die beiden in ihrer Zumutung. Auch der Anfall und der Überfall sind nicht angenehmer. Der Abfall schließlich riecht nicht gut und der Beifall der Vielen trifft selten die Richtigen.
All diese „Fallbeispiele“ werden passiv erfahren. Aber auch das aktive Fallen ist folgenreich und möglichst zu vermeiden, denn der Mensch weiß in diesem Fall nicht, ob, wie und wo er aufschlägt. Ja, eine tiefsitzende Angst bezieht sich auf die Möglichkeit, überhaupt nicht aufzukommen, sondern ins Leere oder Nichts zu fallen.
Da schließt sich der Kreis von Passiv und Aktiv, denn der Zufall kommt ja geradenwegs da her, aus dem Nichts, aus dem Unergründlichen, nicht zu Wissenden, nicht zu Beeinflussenden, nicht Erfassbaren, eben dem Unverfügbaren.
Mit dem Chaos rechnen wir ja nicht mehr, weil man mit ihm ja auch nicht rechnen kann. Dabei gibt es weit mehr unerklärlich Chaotisches als durchstrukturiert und wissenschaftlich beschreibbares Kosmisches. Es kommt nur auf die Perspektive der Wahrnehmung an, um dies bestätigt zu finden. Von da her zielt die Aktivität des Menschen in der Regel natürlich darauf, umfassend vorzubeugen, sich abzusichern, sich auch vieles zu verbieten, damit der chaotische Zufall möglichst keine Chance hat.
Die meisten Leute merken dabei nicht, dass dieser Sicherheits-Fanatismus fatale Folgen mit sich bringt, nämlich Einengung des Lebens in vorgegebene feste Bahnen, Strukturen und Rücksichten, also Lebendigkeits- und Erlebnis-Beschränkungen in allen Bereichen des Alltags.
Man kann das mit gutem Recht für langweilig halten: Es passiert nichts mehr, weil nichts passieren darf, weil nichts unkontrolliert oder ungeplant geschehen soll, Wenn der Zufall dann doch eine Lücke im System findet und sich einstellt, ja fröhlich Ankunft feiert, ist das Entsetzen groß.
Advent ist nunmehr zum Malheur, zum Ärgernis, gewissermaßen zur Blamage geworden: Man hat die Dinge nicht verlässlich genug im Griff gehabt – ein
Management-Fehler gewissermaßen.
Ganz anders sind damit in der Geschichte immer wieder Menschen umgegangen, die aus Advent franz. aventure und engl. adventure gemacht haben, also Abenteuer.
Es geht dabei nicht um das zweifelhafte Abenteuer, z.B. auf der Autobahn rasend schnell am gesteckten Ziel anzukommen.
Mit Abenteuer meinen diese alten Unentwegten das Offensein für die Ankunft des Zufalls, für Erfahrungen und Eindrücke individueller Art, nicht klischeehaft erwartet oder minutiös geplant oder gar von anderen professionell serviert.
Auf Reisen in einer fremden Stadt z.B. kann ich mich einer Stadtführung anschließen und mir zeigen und erklären lassen, was das Fremdenverkehrsamt für des Sehens würdig erachtet.
Als Abenteurer mache ich mich dagegen selbst auf den Weg und nehme wahr, was sich mir bietet. (Thomas Mann sagt: „…mir entgegen springt“.) Das ist dann auch, was in keinem Reiseführer Erwähnung gefunden hat: das Atmosphärische z.B. oder menschliche Begegnungen, auch scheinbar Unbedeutendes. Und dann entdecke ich plötzlich doch die Hauptattraktionen – und manch anderes Sehenswerte eben nicht. Ich kann mir bei all dem Zeit nehmen, die Objekte nicht nur gesehen und von der Liste abgehakt zu haben, sondern, was mir hier in Erscheinung tritt, mir zu eigen zu machen.
Nun ist es eine bekannte Metapher, das Leben eine Reise zu nennen. Es kann natürlich auch eine Karriere sein, eine (in ursprünglicher Bedeutung) ausgefahrene Kutschenstraße, die geradenwegs zum Ziel führt.
Wenn ich hingegen lebe wie ein Reisender, um immer wieder Entdeckungen zu machen, Neues oder auch alt Bekanntes neu zu erleben, ungewohnte Erfahrungen zu machen, neue Begegnungen zu haben, kurz – mit allen Sinnen die Welt durchziehe, dann kann man das schon Abenteuer nennen: Advent kann also gelingen bei gelassener Offenheit für Ankünfte und Gegebenheiten im dem Zufall zugewandten Alltag.
Ein schöner Aspekt bei dieser Art von Lebensreise und Lebensweise ist, dass in diesem Sinne etwas praktiziert und vertieft wird, was seit einigen Jahren mit Achtsamkeit umschrieben und manchmal geradezu propagiert wird. Ich will dieses mal auf die Wiederentdeckung der Natürlichkeit zuspitzen. Heidegger nennt das in seiner Meßkircher Rede „Bodenständigkeit“: Mit beiden Beinen fest auf dem natürlichen Boden stehen, das natürlich Gegebene oder Ankommende wahr- und ernstnehem und mit der eigenen Natur in Beziehung und Einklang bringen.
Das könnte heilsam sein in einer Welt der Entfremdungen, des Abdriftens ins Manipulierte und Manipulierende und Virtuelle und damit in eine zunehmende Unfreiheit.