Mythos
Wir hatten das Thema „Von der Bedeutsamkeit des Mythos“, und ich hatte es so aufgezogen, dass am Anfang des Tagesprogramms zwei griechische Schöpfungsmythen standen. Im ersten, dem pelasgischen, erhebt sich die Schöpfungsgöttin Eurynome aus dem Chaos der Urflut und tanzt dann, verkörpert durch ihr Gestirn, als Mondgöttin wie der Mondschein über das dunkle Meer. Zusammen mit dem Nordwind Ophion setzt sie sodann den „Evolutions“-Prozess in Gang.
Der zweite Text war der olympische Welt-Entstehungs-Mythos, in dem Gaia, die Mutter Erde, dem Chaos entwächst und mit Uranus, dem Himmel, die ersten Götter und „Dämonen“ zeugt, die dann ihrerseits die Theogenese und Weltwerdung fortsetzen.
Auch der biblische (erste) Schöpfungsmythos beginnt damit, das uranfängliche Chaos (das tohu wa bohu) zu konstatieren, gegen das dann der Geist und das Wort des Jahwe-Gottes die Welt und schließlich den Menschen erschafft.
So weit, so schön und auch einigermaßen bekannt. Doch was heißt das?
Unter dem Anspruch, den tiefer liegenden Sinn der mythischen Gestalten und Scenen zu ergründen, gingen die weiteren Impulse und Gespräche dann den Weg, das Phänomen Chaos zu betrachten.
Anders als im griechischen Mythos, strukturiert der biblische Schöpfergott durch das „Wort“ (Gott sprach, es werde…) den Kosmos – die geordnete und begrifflich gefasste, dem Menschen bekannte Welt.
„Das Trockene nannte Gott Land
und das angesammelte Wasser
nannte er Meer.
Gott sah, dass es gut war“
An sechs Schöpfungstagen heißt es fast schon beschwörend immer wieder „…dass es gut war“.
Der Kosmos (die Schöpfung) also ist eindringlich als „gut“ anzusehen – als „schlecht“ dann doch wohl das Chaos (das Unstrukturierte, Wirre und Unbenennbare, also auch Unbegreifbare).
Der ach so gelobte (weil für seine Zeit aufgeklärte) biblische Schöpfungsmythos muss nun allerdings aus heutiger Betrachtungsweise in seinem Wert als symbolische Welterklärung deutlich gemindert werden.
Außer dem (nur implizit erhebbaren) Erkenntnisfortschritt, dass das „Wort“ (verbum, logos) die Wirklichkeit, alles Seiende, gegen das Chaos zum Kosmos strukturiert, ist der Text in der Zeit des Evolutions-Paradigmas nicht mehr sehr hilfreich.
- Nicht, dass ein Gott aus dem Off über dem Chaos steht.
- Nicht, dass die materielle und später geistige Welt machbar war und ist. (Dabei ist in dieser Hinsicht der zweite biblische Schöpfungsmythos sogar noch naiver.)
- Nicht auch, dass der „geschaffene“ Kosmos allein „gut“ wäre.
Zwar ist aus dem Mythos-Text selbst nur als Rückschluss ersehbar, dass das Chaos, als nicht von Jahwe, ja, von ihm überwunden, von daher „schlecht“ ist. Die Tendenz allerdings ist deutlich und wurde in der Zeitenfolge ständig gewichtiger und dominant.
Die Wirkungsgeschichte dieser Abwertung des Chaos ist verhängnisvoll. Der jüdisch-gnostisch-christliche Dualismus hat hier einen Anfang.
Hier der Jahwe-Gott, rein geistig und monotheistisch, dort die Macht des Chaos, materiell und potentiell polytheistisch.
Hier der Gott mit strenger Moral, dort die Götter, unzüchtige Riten, Greuel und Sünde.
Hier der Himmel, das einzige Ziel des Menschen, dort das (Unter-)Irdische, den Menschen herabziehend und schlimmstenfalls vernichtend…
Hier der allein gute Gott, dort die aus dem Chaos erwachsenden Götzen oder dorthin „gestürzten“ Dämonen.
Himmel gegen Hölle also, Transzendenz gegen Immanenz, Heil gegen Unheil, Leben gegen Tod, wie gesagt: Kosmos gegen Chaos.
Wie schön dagegen mutet es an, sich vom griechischen Mythos belehren zu lassen, dass zunächst die Götter und dann alles Übrige aus dem Chaos erwachsen und entstehen. Wie kann das Chaos da „schlecht“, dämonisch und tötlich sein? Es ist doch die Lebendigkeit schlechthin! Im Chaos ist komprimiert, urgründig und un-anfanghaft alles, was Wirklichkeit wurde und wird, potentiell vorhanden. So sagen uns heute beispielsweise die Evolutionslehre, die Astrophysik oder die Biochemie.
Wer da auf die alte Vorstellung von einem Gott nicht verzichten will, kann doch wohl nicht anders, als eben diesen Urgrund, oder besser, unausmessbaren Ungrund, als göttlich zu bezeichnen.
Wenn schon die Vorstellung (und Erfahrung?) von Transzendenz, dann aber untrennbar verwoben mit Immanenz.
Wenn schon eine begeisternde Schau des Kosmos, dann aber auch ein ehrfürchtiges Staunen und Sprachlos-Werden vor dem alles bergenden Chaos.
Greifen hier nicht all die Prädikate, die die aufgeklärte Theologie dem Göttlichen zugibt: Unerkennbar, unaussprechbar, unbegreifbar, unwissbar und undinglich…? Ja, das personhafte Göttliche „gibt“ es nicht, es ist reines Sein, das Sein-Selbst, wie Paul Tillich sagt.
Was hingegen viele Menschen zu allen Zeiten nicht mögen, weil es letztlich bedrohlich ist und die Sicherheit nimmt, ist Unordnung. Wir benennen das gewohnheitsmäßig (aber fälschlich) als Chaos.
Gewiss, vom Standpunkt des in der Ordnung des Kosmos sozialisierten und lebenden Menschen sieht das für ihn nicht Verstehbare, Analysierbare und gesetzmäßig begrifflich nicht Fassbare im Chaos wie Unordnung aus. Aber in der dem Menschen nicht zugänglichen Natur gab und gibt es keine Unordnung Alles hat seine unverwechselbare Gestalt, seinen Platz und seine Bewegungsform im Gesamt, ob im Mikro- oder Makro-Universum.
Unordnung macht nur der Mensch, der den kosmischen Gesetzmäßigkeiten zuwider handelt und erschrickt, wenn er sieht, was er angerichtet hat.
Der neutestamentliche Paulus sagt in Apg 17,28: „…denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Er meint hier den Christengott, von dem er den Athener Philosophen redet, aber außer Spott nichts erreicht. Für aufgeklärte Menschen ist das ein zeitgebundener christlicher Mythos für den Logos, der alles erschließt und das Chaos, das alles bewirkt.
Denn wenn wir oben sagten, dass es Gott und die Götter „nicht gibt“, dann gilt das analog auch für das mythologische Chaos. Wo war es denn, als alles begann? Wo ist das, was alles bedingt, heute zu funden? Es ist durchaus denkbar und kommunizierbar, aber nicht vorhanden. Seine Wirkung ist erfahrbar, es ist und bleibt aber nicht erfassbar.
„Hört sich das nicht an wie Heideggers Rede vom Nichts?“, warf im Seminar ein Teilnehmer ein. Wohl wahr!
Wie in der theologia negativa, können wir nur in Aussagen der Negation vom Chaos reden. Der „Un“ Wörter gibt es viele. Ich kann aber sinnvoller Weise auch in Verneinung nur von etwas reden, das ist. Wenn das Chaos also, wie wir gesehen haben, kein Seiendes ist, dann doch wohl ein Äquivalent für Sein oder Nichts.
„Sein und Nichtsein bedingen (erzeugen) einander“, sagt Lao Tse (2) im Tao te king bereits im 6. Jahrhundert v. Ch. Für ihn ist das, was die frühen Griechen als Chaos benennen, das TAO. Richard Wilhelm übersetzt das mit SINN, eine sehr brauchbare Begriffs-Variante in der Not, dem einen Namen zu geben, was gleichwoh namenlos und „unergründlich finster“ bleibt (21).
(21)
Des großen LEBENS Inhalt
folgt ganz dem SINN.
Der SINN bewirkt die Dinge
so chaotisch, so dunkel.
Chaotisch, dunkel
sind in ihm Bilder.
Dunkel, chaotisch
sind in ihm Dinge.
Unergründlich finster
ist in ihm Same.
Dieser Same ist ganz wahr.
In ihm ist Zuverlässigkeit.
Von alters bis heute
sind die Namen nicht zu entbehren,
um zu überschauen alle Dinge.
Woher weiß ich aller Dinge Art?
Eben durch sie.