…in dem sich Herr Gott ein neues Outfit zulegt und erneut auf Reisen geht, zuvor aber Herrn Paulsen einen Lesetipp gibt
Nach dem letzten Besuch hier sei er sehr zufrieden und erleichtert zurück nach Svendborg gefahren, berichtete Herr Christen-Gott, als wir uns zu unserer definitiv letzten Sitzung wiedertrafen.
Er war mit einer Reisetasche aus dem Taxi gestiegen und erklärte mir, dass er im Anschluss an unser Treffen gleich über Flensburg weiter reisen wollte. Auch war er deutlich anders gekleidet. Auf mein diesbezügliches Kompliment meinte er: »Da musste auch äußerlich mit mir etwas passieren. So war ich in Apenrade im Herrehus.«
»Der Cordanzug macht Sie geradezu verwegen«, spöttelte ich. Er sah wirklich ganz passabel aus.
Wir nahmen wieder unsere gewohnten Sitze ein, und er blieb gleich bei seiner Rückschau auf das Treffen in der vergangenen Woche:
»Ein Satz ist mir aber penetrant nachgeklungen. Da hatte ich doch mit Palmström angespielt auf dieses ›Weil … nicht sein kann, was nicht sein darf‹. Schmerzlich hatte ich das schon im Ohr empfunden, und so lässt es mich auch nicht los. Ich weiß ja, dass allzu Vieles immer noch und immer wieder in den Kirchen nicht laut gedacht werden darf. Weil es Konsequenzen hat, nicht nur für Religion und Gottesbezug der einzelnen Kirchentreuen, sondern für die jeweilige Kirche selbst als Organisation, als Gemeinschaft der angeblich Gleichgesinnten, auch als Gruppe im politischen Plural der Gesellschaft, schließlich auch als Wirtschaftsfaktor. Da wird mir als Christen-Gott ein Spagat zugemutet, der schmerzt und bald nicht mehr auszuhalten ist – ich kann es nicht mehr hören, das Kalkül ›Was wäre wenn…‹!«
»Wenn Sie wollen, können wir ja noch einmal an eine kleine Stuhlarbeit gehen. Ich vermute, dass Sie diese Strapazen des Ohres auch in anderen Erfahrungen kennen. Für gewöhnlich sind Sie ja nicht zu sehen, da geht der Kontakt doch immer nur über das Reden und Hören.«
Herr Gott nickte mir zu, und ich bat ihn, auf den leeren Stuhl zu wechseln.
»Das könnte heute der Stuhl des Ohres sein«, schlug ich vor, »Sie sind das Ohr des Herrn Christen-Gott.«
Mein Klient stutzte ein wenig und fand nicht gleich in die Rolle.
»Ich bin das Ohr des Christen-Gottes«, sprach ich ihm vor. Er wiederholte das artig, fast wie ein Schüler. Wir schmunzelten beide über die Komik der Situation. Aber dann hatte er es und begann, ruhig sich Zeit nehmend, einzelne Befindlichkeiten und Erfahrungen ins Präsens zu holen:
»Ich bin müde, erschrecklich müde! Tag und Nacht prasseln die Hilferufe, Lobpreisungen, Beschwerden, Stoßseufzer und bayerischen Flüche auf mich ein. Bislang meinte ich, ständig präsent sein zu müssen, doch wofür?
Ich bin Abladeplatz für sehr Prosaisches, auch Irregeleitetes, genervt und überstrapaziert von Floskeln, Formeln und Deklamationen. Es sind die Pflichtmenschen, die meinen, möglichst viel und oft in den Himmel hinein reden zu müssen, als hätten sie Angst, der Gott, den sie sich da vorstellen, könnte vergessen, dass sie noch da sind; sie könnten aus seiner bergenden Superhand fallen. Auch der Appell an den Retter-Gott haftet mir an bis heute. Die Leute schreien tagein, tagaus, obwohl sie wissen können, dass sie sich selbst aus der Bredouille bringen müssen – dass sie aber auch die göttliche Kraft dazu in sich haben – ja, sie haben’s in sich, die Menschen!«
Herr Gott schaute an mir vorbei, scheinbar ins Leere, und griff schließlich seine unterbrochene Rollen-Rede wieder auf:
»Ich bin ja betroffen und gerührt von den Schreien der Gequälten, den von Zumutungen und Ansprüchen der harten Üblichkeit Überforderten, den Verzweifelten und Einsamen, den Zu-kurz-Gekommenen und Gefallenen. Sie erfahren ja, dass ihr Gott nicht helfen kann, nicht eingreifen, wie sie es gegen die eigene Vernunft erbitten. Dann verfluchen sie Gott zuweilen.«
Wieder schaute Herr Gott auf, diesmal zu mir herüber, ihm war die Rolle des Ohrs wohl zu eng geworden, und ich bedeutete ihm, dass er auch auf dem Klientenstuhl weitermachen könne, und er ging darauf ein:
»Da spüre ich, dass es noch einen Sinn macht, wenn ich wenigstens für manche den ›Ich bin da‹ repräsentieren kann. Meine Rolle ist dabei nicht viel anders als Ihre in diesen Settings«, sprach er mich direkt an. »Schön, wie Sie das kürzlich gesagt haben, vom ›Heilenden Aussprechen‹. Auch Schreien und Fluchen und Rasen und Spucken kann heilsam sein.
Dann bin ich leider nur eine Ersatzfigur für fehlende Menschen, für das nicht vorhandene Gegenüber, für das vermisste Ohr, das diese Menschen in Not dringlich brauchten. Ich bin das dann notgedrungen, bei allem Fiktionalen und nur Gestalthaften, das mich nun einmal ausmacht.«
Für einen Moment hellte sich das Gesicht des Herrn Christen-Gott auf, er war trotz allem offensichtlich ein Menschenfreund.
Doch dann machte er weiter:
»Ich bin übersättigt von Hymnen und pathetischen Liedern, ja ich habe es satt! Die Leute merken es einfach nicht, wie sie sich da in meiner Gestalt selbst ansingen, wie die Kirchenlieder und Sacro-Pop-Songs ihrer eigenen Auferbauung dienen, wie die Begeisterung der oft gar nicht mehr so jungen Leute, die zum Papst pilgern, auch deren Zweifel und Leerheiten übertünchen muss. Ihr Hochmut über die Fußball-Begeisterten in der Fankurve, die ebenso ihre Idole vergöttern und feiern, fällt auf diese Selbstgewissen zurück. Es ist doch einerlei, wie der Gott jeweils heißt, Hauptsache, er gibt den Massen Anlass zum Jubeln, dazu haben sie ansonsten ja wenig Gelegenheit.
Im Grunde zieht doch jeder Gott einen Genitiv nach sich. Nicht nur ich als ein Gott der Christen, sondern ebenso der der Juden oder der Muslime, der Gott der Pius-Bruderschaft und der freikirchlichen Eiferer – genauso wie der Gott des kleinen Leon im Kindergarten und der seiner Erzieherin, die Götter der Pop-Musik-Szene und der Gott Josef Ackermanns oder Joseph Ratzingers. Sie sind allerdings alle sehr kurzlebig veranlagt.«
Mein Klient war ein wenig ins Assoziieren geraten und hatte mit seinem Ausflug in die aktuelle Götterwelt schließlich auch sich selbst wieder ein Stück weiter erübrigbar gemacht. Er fand das ganz in Ordnung so und ließ sich dann auch gern noch einmal zu seinen Ich-bin-Worten zurück bitten:
»Ich bin beleidigt von Bestechungsversuchen: Gibst du mir, geb ich dir – Eine Hand wäscht die andere. Hilfst du mir aus der Patsche, spende ich für den Kirchenbauverein. Gewährst du mir Ansehen und Macht, verzichte ich dir zuliebe auf die Liebe zu einer Frau…
Hören Sie mal«, schaute Herr Gott mich gequält und angespannt an, »das geht so seit Jahrhunderten. Grotesk ist das und entsetzlich. Dabei ist da kein Gott, der auf die Deals eingegangen wäre, diese Bundesschlüsse der Geschäftstüchtigen.«
Mein Klient lehnte sich wieder etwas gelassener in seinen Stuhl zurück, legte ein Bein über das andere und schloss sogar für einen Moment die Augen. Dann war er wieder ganz Ohr:
»Ich bin angerührt von den ungelenken, tastenden und verschämten Versuchen mancher Menschen, die tatsächlich das Göttliche suchen, das für sie im Dunkeln ist, das bildlos und ohne Gestalt erahnt, erwünscht und erhofft wird – trotz aller begrifflichen Unerreichbarkeit.
Ich bin auch erfreut, wenn mich zum Beispiel Musik oder Poesie erreichen, von Menschen, die sich vom Göttlichen haben berühren lassen, die dem Göttlichen in sich Raum gegeben haben und durch ihre Kreativität das Göttliche auch anderen erfahrbar machen…«
Herr Christen-Gott sagte eine Weile lang nichts, und auch ich spürte seinen Bekenntnissen nach.
»Gut, dass Sie mir diese Gelegenheit noch gegeben haben«, sagte er dann und ging zum Klientenstuhl zurück.
Nach einer neuerlichen kleinen Pause brachte ich das Gespräch wieder in Gang:
»Ich hätte nicht gedacht, dass der Vorschlag zu dieser Arbeit so bei Ihnen ins Schwarze träfe. Wohl unbeabsichtigt haben Sie mit Ihren letzten Aussagen sogar Ihren Wunsch nach »Gott ist tot‹ relativiert. Es scheint mir ohnehin, dass dieses theologische Programm die Vorstellung von einem personalen Gott meint, der in der Tat für alles und jedes zuständig sein soll und in Haftung genommen wird. Auf diesen theistischen Gott bezogen hat Dorothee Sölle sogar einmal gesagt: ›Lebte Christus heute, er wäre Atheist.‹ – ein schönes Christus-Bild für Ihren Plural der Christus-Gestalten, den Sie sich in der letzten Sitzung so gewünscht hatten.«
»Ich bin überrascht«, gab mir Herr Gott zurück, »dass Sie während unserer gemeinsamen Zeit hier offenbar Sölle gelesen haben. Das ehrt Sie und freut mich.
Dann lesen Sie am besten gleich weiter bei Meister Eckhart, der war im 13./14. Jahrhundert Dominikanerkollege von Johannes Tauler und hat auf seine Weise und für seine Zeit schon das Gleiche gesagt:
»Darum bitten wir Gott, dass wir Gottes ledig werden und dass wir die Wahrheit dort erfassen und ewiglich genießen, wo die obersten Engel und die Fliege und die Seele gleich sind…«
So gesehen war er da schon Atheist. In der Geistesgeschichte wird er aber als Mystiker geführt, als einer der bedeutsamsten überhaupt. Ob die Begriffe am Ende austauschbar sind?
Meister Eckhart war fast vergessen oder auch tot geschwiegen. Was soll eine Kirche denn auch mit einem, der mit so einer Religionskritik ihre ganze Macht und Herrlichkeit in Frage stellt?
Es gefällt mir, dass ich Ihnen mit diesem Namen mal einen Tip geben kann – wo umgekehrt Sie es ja mir gegenüber trefflich vermieden haben, mit Tips und Ratschlägen meine Selbst-Erfahrungen zu stören.
Sie haben dadurch, dass Sie mir Ihre Meinung und Haltung nicht entgegengesetzt haben, mich nicht korrigiert und belehrt haben, die Möglichkeit gegeben, mich ungeschützt und unversteckt mitzuteilen, mich auszuloten, auszuschöpfen, auszusprechen. Das war schon gut.
Danke auch fürs Zuhören, sonst bin ich es ja immer, der hinhören muss.
Wenn die Menschen nur langsam akzeptierten, dass von mir keine konkrete Hilfe kommt. Trotzdem kann Beten sinnvoll sein. Das hilft zur Entlastung, Klärung, Vergewisserung und im besten Fall zur Wahrnehmung des Göttlichen auch in sich selbst. Das kann immense Energie freisetzen, die durchaus auch verändernd erfahren wird.
Aber Heilung erwächst am Ende doch zunächst aus einer wirklichen persönlichen Begegnung von Mensch zu Mensch, aus wirklichem Gesehen- und Ernstgenommen-Werden. Als billiger Ersatz für dieses menschliche Präsentsein möchte ich da nicht missbraucht werden, auch nicht von den Spiritualitätslehrern, die nicht weiter kommen als ›Wirf deine Sorgen auf den Herrn!‹«
Herr Christen-Gott konnte es nicht lassen, gegen gewisse Vorstellungen und Praktiken in seinen Kirchen zu sticheln. Die Enttäuschungen und der Ärger darüber schienen heftig, ja im Aussprechen und Mitteilen erst in ihrer ganzen Schwere erfahrbar und bewusst geworden zu sein. Und er hatte sich wohl tatsächlich mit dem ›Geist, der stets verneint‹ getroffen.
So beendeten wir unsere Gespräche also keinesfalls im Happy End. Wie sollte er auch happy sein als Ideenträger einer Christenheit, deren harter Kern immer noch tapfer an der Maxime festhält: ›Weiter so!‹
Ich bedankte mich meinerseits bei meinem zeitweiligen Gast und Klienten:
»Das Zuhören war spannend, auch spannungsvoll, kurzweilig und bereichernd.
Was Sie über das Göttliche andeuteten, war mir gar nicht so fremd, wie ich gemeint hatte. Es ist angenehm, dass ich mich dadurch in keiner Weise zu irgendetwas veranlasst oder gezwungen sehe – aber neugierig gemacht fühle ich mich schon.«
Beim Hinausgehen sagte ich ihm noch, dass ich mir ja Notizen gemacht habe, auch aus dem Gedächtnis protokolliert. Ob ich das bei Gelegenheit vielleicht zur Veröffentlichung geben dürfte?
»Tun Sie das, Herr Paulsen«, lachte Herr Christen-Gott ganz ausgelassen, »es wird Ihnen niemand glauben.«