in dem Herr Gott Probleme mit seinem Namen ›Christen-Gott‹ bearbeitet.
»Sie haben da in Flensburg so schöne alte Kirchen«, begann Herr Christen-Gott unvermittelt, als wir zur fünften Sitzung Platz genommen hatten. »Ich war jetzt ein paar Mal dort, wenn der Organist übte. Bach von der Orgel und ein gotischer Kirchenraum – da wird etwas vom Göttlichen erfahrbar, wie es mir im Gottesdienst selbst nur selten gelingt: so viel Gerede und Gesinge und immer die gleichen Formeln und Riten. Das ist doch eher geisttötend.
Auch die gotische Kirchen-Architektur von außen ist ein Lobpreis des Göttlichen. Das haben offenbar Menschen kreiert, die das Göttliche in sich spürten und daraus schöpfen konnten. Steine können beten!«
Herr Gott schaute etwas verlegen, als er sich auf den Stuhl zurücklehnte und fortfuhr:
»Wissen Sie, dass ich mich da im Gottesdienst immer seltener antreffen lasse? Ich empfinde es schon als ein bisschen kränkend, dass die meisten Gläubigen das gar nicht merken – sie machen weiter wie immer. Vielleicht sind da ja ein paar Wenige, die unbefriedigt und leer nach Hause gehen, mit dem unguten Gefühl: War da was?
Ich habe dieses Gefühl der Leere bei all der rituellen Geschäftigkeit und lauten Emphase schon lange.«
Mein Klient schaute zu mir herüber, als wollte er mir Gelegenheit zu einer Erwiderung geben. Ich war aber von seiner Eröffnung so überrascht, dass ich vorerst nichts sagen konnte. So brachte Herr Gott langsam, Wort vor Wort setzend, etwas in Rede, was wohl im Aussprechen erst konkrete Gestalt annahm:
»Die routinierten Besucher des Sonntagsgottesdienstes kennen die Riten und Texte doch längst in- und auswendig. Und selbst die Predigt wird zumindest in der katholischen Kirche zumeist als langweilig oder leer-rhetorisch vernommen. Ich jedenfalls erlebe diese Reden oftmals als beleidigend. Wie glatt und professionalistisch, anscheinend ohne inneres Beteiligtsein, da von mir und dem Göttlichen parliert wird, ist nur mit christlicher Demut zu absolvieren.«
So aufgedreht hatte ich meinen Klienten bislang noch nicht erlebt. Er schien den Liturgie-Verantwortlichen in den Kirchen nicht mehr viel zuzutrauen. Aber vielleicht hing seine Aufgebrachtheit auch damit zusammen, dass die fünfte Sitzung ja auch unsere letzte sein sollte.
Ich brachte das zur Sprache und machte auch gleich den Vorschlag, zum Schluss noch einmal kritisch auf den erlebten Prozess zu schauen.
»Und dann war da doch noch Ihre Christologie, die wir auf heute vertagt hatten.«
Ich schaute unwillkürlich auf die Wanduhr, die uns mit ihrem gleichmäßigen Ticken und Schlagen in ihrer ruhigen Präsenz durch die Sitzungen und die Zeit begleitet hatte.
Herr Gott hatte das gleichwohl bemerkt und gedeutet: »Bitte keinen Zeitdruck zum Schluss!« warf er ein. »Ich könnte gut auch noch ein sechstes Mal kommen, wenn das in Ihrem Kalender passt. Ich hatte Ihnen ja schon beim letzten Hiersein gestanden, dass die Sache mit Christus mein kritischstes Problem ist, vor allem in der heutigen Zeit. Da sind ja auch in diesem Feld die Selbstverständlichkeiten zerstoben.«
Bereitwillig räumte ich die Möglichkeit eines sechsten Treffens ein und versuchte dann, an den Schluss unserer vorherigen Sitzung anzuknüpfen.
»Sie sagten da, dass es Ihnen leichter fiele, zu erklären, wie es mit Christus wohl nicht sei, was Sie nicht mehr vertreten könnten, wie Sie früher schon mal formuliert hatten.
Wir könnten da unseren Stuhl zum ›Nein-Sage-Sitz‹ machen. Da könnten Sie zunächst, ohne die Einschränkungen des Abwägens, ohne gleich alle möglichen Konsequenzen mit bedenken zu müssen, erst mal gedanklich und gefühlsmäßig aufräumen, aussortieren, ja auch abgrenzen.«
Herr Christen-Gott begab sich also zum Nein-Sage-Stuhl, schaute eine Weile, sich konzentrierend, aus dem Fenster und vergewisserte sich noch einmal: »Ich soll jetzt also eine ›Theologia negativa‹ formulieren?«
»Das tun Sie doch schon, seit wir hier zusammen arbeiten, genauerhin jetzt also eine ›Christologia negativa‹«, konkretisierte ich. »John Lennon hat mal einen Song gemacht: ›I don’t believe‹. Das hat durchaus etwas Befreiendes, so ein Auspacken. Vielleicht versuchen Sie es mal!«
»Es gibt da«, begann Herr Christen-Gott, »eine Zeile im Glaubensbekenntnis über Christus: ›Gezeugt, nicht geschaffen.‹ Da sage ich ›Nein‹. Das drehe ich jetzt erst mal um: Christus ist ganz sicher geschaffen, eine Schöpfung der Evangelisten, vor allem auch des Paulus, und dann noch einmal ganz heftig, der Konzilstheologen und byzantinischen Hofpolitiker des 4. und 5. Jahrhunderts. Erst haben die frühen Gefolgsleute Jesus zum Messias befördert, dann wurde aus dem Messias griechisch Christos, der zum Sohn Gottes avancierte und schließlich eine Person in der göttlichen Trinität wurde. Das ist eine beachtliche Karriere.
So etwas kann man nur mit einem Toten machen. Zugegeben, bald nach dem Tod setzt bei jedem einigermaßen bedeutsamen Menschen die Mythenbildung ein, zuweilen bereits bei der Beerdigungsfeier.
Aber dass in kürzester Zeit die wesentlichen biographischen Daten ins Gegenteil umgedeutet werden, ist schon erstaunlich: aus offensichtlichem Scheitern wird Erfolg und Sieg, aus offensichtlichem Tod wird Auferstehung und ewiges Leben. Damit ließ sich sicher gut Religion und später auch Staat machen. Und so setze ich mein zweites ›Nein dagegen: Das Grab war nicht leer!«
Ich schaute gebannt auf Herrn Gott, der sich aber nicht abhalten ließ, fortzufahren:
»Die leibliche Aufnahme Jesu in den Himmel ist heute nicht mehr zu vertreten. Da haben die Hervorbringer dieser Botschaft kräftig in die zu ihrer Zeit schon reichlich ausgestatteten Götter-Mythologien gegriffen. Ganz hübsch ist da zum Beispiel die Himmelfahrt des Herakles. Auch Elia im Alten Testament wurde schon bei seiner Himmels-Entrückung zum Helios stilisiert, dem griechischen Sonnen-Gott. Der lässt uns das ja jeden Tag erleben: Sterben am Abend im Westen und Auferstehung am Morgen im Osten, angekündigt von meiner Freundin Eos/Aurora.
Sie wissen ja, ich habe nichts gegen die Mythen. Im Gegenteil, um vom Wesen eines Menschen zu reden, auch vom Göttlichen, brauchen wir Bilder, Metaphern, Mythen, zumindest Anekdoten. In Jesus war die Nähe des Göttlichen im Menschen so greifbar, unübersehbar, faszinierend erlebbar; darüber kann man nicht sachlich-journalistisch berichten. Die Botschaft, die ergriffen macht, kann nur in Begeisterungs-Rede in immer auch unzulänglichen Bildern und daher auch Übertreibungen an ihre Adressaten vermittelt werden.
Es geht in der gesamten Christus-Rede ja doch und eigentlich um das Göttliche, das im Menschen entdeckt wurde. Das Göttliche ist nicht erst an Weihnachten in Jesus Mensch geworden. Es war immer schon zu allen Zeiten im Menschen manifest und ist es auch heute. An Jesus ist dies für die Christen offenkundig geworden. Das erlebt zu haben und davon geradezu verändert worden zu sein – das muss man erst mal in Sprache bringen.
Also nichts gegen die Oster-Erzählungen. Nur sind sie bald fragwürdig gedeutet worden – als sei die Menschennähe des Göttlichen nur und exklusiv in Jesus erfolgt. Und damit begann die bedenkliche Apotheose: Einen Gott zum Anfassen zu haben ist schon verführerisch, auch wenn er gerade gestorben und gehimmelfahrtet ist. Man konnte sich dann immerhin an den Berichten über sein Erdenleben festhalten. Kein Wunder, dass es immer mirakulöser und hypertropher dargestellt wurde, je länger der Zeitabstand zum historischen Ereignis wurde. Schöne Bilder in der Tat, die christliche Kunstgeschichte hat daraus ihre Motive bezogen, bis in die Moderne.
Das Andenken an Jesus wurde dadurch jedoch zu einer Projektion, wie auch ich eine bin. In dieser Hinsicht nun sind wir sicher verwandt!
Aber die Verkündigung Jesu von der Gegenwart des Göttlichen in der Welt und sein Appell, die Augen aufzumachen und es wahrzunehmen, umzukehren aus der Blindheit, droht dabei immer wieder verloren zu gehen, aus dem Bewusstsein zu fallen, vor lauter ›Christus-ist-der-Sohn-Gottes‹-Theologie.«
Herr Gott war heute wirklich in Sonderform. Der Nein-Sage-Stuhl hielt ihn keinesfalls davon ab, eine engagierte Rede zu führen. Ich konnte ihm in seinen Anspielungen, offensichtlichen Korrekturen und neuen Perspektiven kaum folgen. Darauf war ich nicht vorbereitet. So konnte und wollte ich auch nicht eingreifen oder durch Nachfrage den Gedankenbogen unterbrechen. Ich erinnerte ihn also nur diskret, dass er auf dem Nein-Sage-Stuhl säße.
»Ja, ja«, griff er das gerne auf, »mein drittes ›Nein‹ gilt der obskuren Transsubstantiationslehre. Sie wissen nicht, was das heißt? Wer weiß und versteht das auch schon! Es ist ein Gedanken-Monster und Wort-Ungetüm. Was so sprachkompliziert daher kommt, kann ja nur ein Konstrukt von verkniffenen Geistern sein. Es waren denn auch Konzilstheologen, erst im 13., dann Mitte des 16. Jahrhunderts. Vergleichen Sie das mal mit dem schönen Wort ›heil‹. Klein, kurz und bescheiden steht es da, aber alles ist drin, auch ohne die Endung ›-ig‹. Wenn das kleine Kind dieses Wort ausspricht, strahlt das ganze Gesicht – jener Begriff aber lässt erstarren. Und so war es auch die Absicht: Die Lehre sollte eindeutig festgezurrt werden, abgegrenzt gegen alles Mögliche, was nicht mehr möglich sein durfte.
Sie besagt übrigens die Gegenwart Christi in Brot und Wein des Abendmahls, genauerhin, dass das Brot ›substantiell« Christi Leib und der Wein Christi Blut sei.
Wenn damit die Gegenwart und Erfahrung des Göttlichen in der liturgischen Feier gemeint wäre, müsste man doch fragen: ›Warum so ein Aufwand?‹ und Warum nun gerade und ausschließlich in diesem Brot und Wein?‹
Das Göttliche wird doch in jedem Menschen Mensch und kommt in jeder Blume zum Blühen.
Aber da ist es ja wohl einfach einfacher, die Erfahrung des Göttlichen auf das Abendmahl in der Liturgie zu beschränken. Dann hat man eine Woche lang, oder länger, seine Ruhe. Dass das Göttliche sich im Umgang der Menschen miteinander täglich ereignet – oder eben auch nicht, erscheint dagegen eine Zumutung. Das könnte einen ja tatsächlich nicht in Ruhe lassen.«
Ich nutzte die Pause, die mein Klient sich gönnte, um ihn auf seinen Gottes-Stuhl zurück zu bitten. Dreimal ›Nein‹ war ja zu einer geballten Ladung Zündstoff geworden.
»Sie hatten anfangs einmal durchblicken lassen«, versuchte ich dann neu anzusetzen, »dass Sie unter anderem auch deswegen zu mir in Beratung gekommen seien, weil Ihre Popularitätswerte ständig am Fallen sind. Meinen Sie, mit dieser Radikalität wieder mehr Zuspruch zu finden? Ihre Kirchenleute werden Ihnen vorwerfen: ›Wo bleibt das Positive?‹«
Herr Christen-Gott lächelte nachsichtig, als habe ich ihn nicht oder schlecht verstanden:
»Mir geht es nicht ums Populäre für meine Gestalt. Ich sagte Ihnen doch schon, ich würde gerne zurücktreten, wenn dadurch das Göttliche mehr in das Leben und Miteinander der Menschen käme. Ja, ich bin sogar sicher, dass das einander bedingt. Das Wahr- und Ernst-Nehmen des Göttlichen war schon zur Lebenszeit Jesu nicht populär. Jesus ist an dieser Realität fast verzweifelt.
Darum will ich mich wieder darauf verlegen, meine vornehmste und ureigene Funktion zu erfüllen: meine Gestalt für das Göttliche transparent zu machen, immer wieder auf das Göttliche als das Eigentliche zu verweisen. Ich will Mut machen zum persönlichen, individuellen Fromm-Sein – auch als Christ durchaus auch in der Tradition und mit Hilfe von Christus-Bildern, -Vorstellungen und -Gestalten. Allerdings im Plural.
Es gab ja schon in den vier Evangelien sehr unterschiedliche Christus-Bilder und in den Apokryphen weitere, sehr eigene.
Auch heute gibt es da, wo die zwanghafte Dogmatik-Gläubigkeit verlassen wird, unzählig viele Christus-Gestalten. Die Leute fragen nicht mehr nach Erlaubnis für ihre eigenen Bilder, sie tragen sie aber auch nicht auf dem Markt zur Schau. Mit den Gottesbildern ist es da ja kein Stück anders, das sehen Sie an mir.
Im Übrigen geht das eigentliche Fromm-Sein, die Achtsamkeit für das Göttliche, natürlich auch ganz ohne mich und die vielen Bilder und ohne die christlichen Konfessionen ganz gut. Das Göttliche ist ja in allen Religionen ebenso verborgen wie durchscheinend und schließlich erfahrbar, wie es bei Lukas über die Weihnachtsfreude heißt: ›..die dem ganzen Volk zuteil werden soll‹.
Da mag auch manch Agnostiker oder religiös Unkundiger dem Göttlichen näher sein als die, die ›nur den lieben Gott verwalten‹.«
Jetzt schaute Herr Gott seinerseits auf die Wanduhr, die das alles, was sich hier wieder abgespielt hatte, mit ihrem gelassenen, gleichmütigen Tick-Tack relativierte.
Mir blieb nichts mehr als das Eingeständnis, dass wir die sechste Sitzung nun doch wohl brauchen könnten, auch wenn für heute offenbar nichts Weiteres gesagt werden musste. Aber fertig waren wir nicht – das war wohl überhaupt nicht ernstlich zu erwarten.