Und Gott lachte: Viertes Kapitel


…in dem Gott sich authentisch zum Thema Sünde äußert und Herr Paulsen zu der Einschätzung kommt, dass Gott unmöglich sei

Zur zweiten Sitzung eine Woche später erschien Herr Christen-Gott in aufgeräumter Verfassung. Er hatte mit einer Dame disputiert, die wohl auch Dauergast im Hotel war.

»Ich habe Ihnen eine kleine Anekdote mitgebracht«, begann er, »von meinem Gegenüber heute beim Frühstück. Die Dame meinte wohl, ihr sollte zu meinem Namen etwas einfallen und erzählte von ihrem kleinen Enkel, einem Erstklässler, der eines Abends von seinem Freund verstört nach Hause kam. Sie hatten ein Gruselvideo angeschaut mit der Gestalt des Teufels darin. Da blieb der Mutter, zur Beruhigung beim Zu-Bett-Gehen, nichts anderes übrig, als den Kleinen zu trösten: ›Den Teufel gibt es nicht, das haben die Leute sich nur ausgedacht.‹ Worauf der Knabe unschuldig fragte: ›Dann haben sie sich wohl Gott auch nur ausgedacht?‹«

Das fand Herr Christen-Gott offenbar prima, was mich nun wieder dazu veranlasste, den Knirps in H. C. Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider in Erinnerung zu bringen, mit dem geflügelten Wort: »Er hat ja gar nichts an!«

»Oh ja«, sinnierte daraufhin Herr Gott. »Wenn man die Kinder nur ließe, sie ernst nähme mit ihrer Wahrnehmung und ihren Fragen. Was würde da im traditionellen Kirchenbetrieb nicht alles nackt dastehen? Wer hat denn schon bei der Firmung oder Konfirmation den heiligen Geist gespürt, wenn nicht im Einzelfall durch spirituelle Suggestion vorbereitet?

Und da, wo Kinder und Jugendliche das Göttliche erfahren, in Liebe und Erotik, im Glück über den Erfolg, im Atmen der frischen Luft nach der stickigen Schule, da ist von der Gottheit keine Rede – und so bleibt das Göttliche den jungen Menschen fremd. Nur den von Kirchen und Lehrplan vorgesehenen Gott der Tradition müssen sie lernen, aber zu viele ›kaiserliche Kleider‹ hat der an, gewinnt gar nicht erfahrbare Gestalt und bleibt letztlich ein Phantom der Schulbücher und der pädagogischen Belehrung. ›An Worte lässt sich trefflich glauben.‹« Herr Gott schmunzelte versteckt: Diesmal hatte er Mephisto zitiert.

»Die Verantwortlichen merken gar nicht«, fuhr er fort, »wie hier die Verdummung beginnt und um sich greift, die im Erwachsenenalter dann als peinlich erlebt wird. Deswegen reden die Erwachsenen doch so ungern über Religion, und wenn, entschuldigen sie sich für ihren ›Kinder-Glauben‹. Zu schlechter Letzt werden sie mit Sprüchen und Ritualen aus diesem naiven Kinder-Glauben beerdigt.

Weil über dem Geschehen da dann eine schwere Pietät liegt, wagen die Kinder, die dabei stehen, auch wieder nicht, sich abzugrenzen, ihre Irritationen bewusst werden zu lassen und zu fragen.

Und ach, was für Antworten kriegten sie dann auch. Sie sollten eben glauben, was uneinsichtig ist, dafür seien sie Christen und Gott sei Dank nicht nichts, wie der Banknachbar in der Schule. »Gott sei’s geklagt«, spüre ich da zutiefst. Aber keiner klagt, und nach und nach verstummt das Fragen.

Ich werde Ihnen mal was sagen«, schaute Herr Gott mich zornig an, »die größte Sünde ist die Dummheit. Und Kriminelle sind die, die bewusst die Menschen verdummen.«

Ich wollte etwas einwerfen, aber Herr Gott ließ sich nicht aufhalten.

»Es schmerzt zu sehen, dass man dabei nicht nur die Werbe- und Politstrategen, die Pressezaren und Kultusbürokraten kritisieren muss, sondern nicht anders auch viele Verantwortliche in den Kirchen, trotz der Aufklärung von Voltaire bis Freud und Drewermann.

Es entlastet die Anti-Aufklärer gerade noch, dass sie es ja gut meinen mit den Menschen in der Kirche, wie es ja auch gut gemeint war, dass sie selbst bereits durch fragwürdige Indoktrinationen verdummt worden sind.«

»Aber das kann so unwidersprochen doch wohl nicht stehen bleiben«, warf ich erschrocken ein. Mein Gast blinzelte etwas irritiert, und ich erschrak meinerseits über die krasse Intervention.

»Wollen Sie sich das nicht auch mal von der anderen Seite anschauen?« schlug ich vor, und auf den leeren Stuhl weisend: »Wie wäre es, wenn Sie mal da Platz nähmen und einen Kirchenfürsten abgäben. So könnten Sie zu Ihrer Rede Distanz gewinnen, sozusagen Gott zur Ordnung rufen.«

Schneller als erwartet ging Herr Gott zum Stuhl gegenüber und murmelte: »Ich weiß schon, welcher Kardinal ich bin.« Gleich nachdem er Platz genommen hatte, fixierte er den leer gewordenen Gottes-Stuhl:

»Du lieber Gott, das geht nun wirklich nicht so weiter«, begann er. »Sie beschimpfen Ihr eigenes Personal und distanzieren sich von allem, was Sie trägt. Zumal Ihr Redestil entbehrt jeglicher Spiritualität. Auch wenn Sie nur noch in der Liturgie über die Himmlischen Heerscharen gebieten, dürfen wir in Ihrer Kirche doch mehr Dignität und Herrlichkeit von Ihnen erwarten. Was Sie da von sich geben, ist ein plattes Beispiel für spätpubertäres Überreagieren. Solche Ausschreitungen sind völlig unangemessen und zu missbilligen.

Das Volk verliert zudem ja jeglichen Respekt auch vor uns, die wir
in der kirchlichen Verantwortung stehen.«

Laut lachend über diesen Spaß wechselte Herr Gott auf seinen Stuhl zurück, blickte zum imaginierten Kardinal gegenüber und konterte:

»Herr Erzbischof, Dank für die Sorge um meine Reputation, aber Sie können sicher sein, in der Liturgie weiß ich mich noch zu benehmen. Auch wenn mir das ›Sanctus, sanctus‹ nicht mehr so schmeichelt wie früher. Es ist nämlich auch eine sehr subtile Form, Distanz aufzubauen und zu wahren, die ich aber gar nicht mag. Und was die Himmlischen Heerscharen, die Cherubim und Seraphim, angeht, so hat den letztmöglichen Auftritt in der Geschichte bereits der Evangelist Matthäus verpatzt, als er in der Passions-Erzählung seinen Jesus großspurig auf himmlische Hilfe verzichten ließ.

Allein, hier bin ich in einer Therapie-Sitzung. In so einem Setting ist es durchaus angesagt, sich von seinen Erzeugern abzugrenzen, sich in Auseinandersetzung mit dem als überwunden Erkannten selbst neu zu identifizieren, und als legitim, dabei das Maß nicht immer puristisch beachten zu müssen und auch mal überreagieren zu dürfen. Natürlich bleibt dabei die peinliche Erkenntnis, dass das immer noch und weiter in Abhängigkeit vom Bisherigen geschieht, also zur Gegenabhängigkeit wird. Ich beobachte das selbst oft bei den sich ehrlich mühenden Agnostikern und ihrer Neigung zur Heftigkeit. Warum also nicht auch ich? Meine Erzeuger waren zumeist ja brave, wohlmeinende Christenmenschen – was sie bewirkten, aber oft ungeheuerlich. Von den Zynikern unter ihnen ganz zu schweigen.

Als Produkt der Theologie und christlichen Spiritualität wende ich mich also gegen meine Hervorbringer, die Evangelisten und Kirchenlehrer, die Päpste und byzantinischen Kaiser, Scholastiker und Reformatoren, Jesuiten und Pietisten und die von Krisen und Entbehrungen geschüttelten Menschen des Volkes, denen erst die Ängste geschürt wurden, damit sie die Erlösung um so mehr begehrten, denen die Sündenlast so beschwert wurde, damit sie den barmherzigen Gott mit Opfern und Beten gnädig stimmen mussten.

Ich mache niemandem Angst, dann brauche ich auch nicht barmherzig zu sein. Aber Sie sollten das, ab und zu mal.

Im Übrigen sind Sie entlassen.«

Als unsere Blicke sich wieder begegneten, meinte Herr Gott erklären zu müssen: »Das bezieht sich natürlich auf die Imagination, ich habe keine Lust, mich weiter mit dem Kirchenmann herumzuschlagen. Den wirklichen Kardinal kann ich leider nicht entlassen, dazu reicht meine Macht nicht aus – und auch andere haben die Macht nicht.

Wenn diese Herren einmal geweiht sind, wird sie selbst der Herrgott nicht mehr los. Das haben sie sich listig ausgedacht mit dem ›unauslöschlichen Siegel‹ der Weihe und des Sakraments.

Es gibt ja so Haustüren«, kam ihm dann offenbar spontan vor Augen, »die haben drinnen eine Klinke und außen einen Türknopf, man kann sie also von außen nur mit einem Schlüssel öffnen. In der katholischen Kirche ist das umgekehrt: Da ist draußen eine schöne Klinke und ein prächtiges Portal, aber von drinnen nur ein Knopf. Die Tür bleibt verschlossen, außer für die mit der Schlüsselgewalt.«

Herr Gott machte eine Miene, als stünde er selbst vor verschlossenen Türen.

»Aber so kann ich mich in den christlichen Szenen natürlich nicht vernehmen lassen«, räumte Herr Gott dann ein, »die Leute hielten mich für verrückt. Ehe ich es werde, gehe ich da lieber gleich zum Therapeuten:

Sie sind mir als ungläubig beschrieben worden. Aber ich sehe das nicht so. Ich erlebe Sie eher als einen, der alles glaubt – weil er erst mal alles für möglich hält.«

Das Kompliment war nun allerdings deutlich zu groß für mich, und ich revanchierte mich: »Aber Sie sind wirklich unmöglich.«

Er nahm den ironisch gespielten Ball auf, und lächelnd und kopfnickend stimmte er mir zu.

Dann fiel mir aber noch Rilke ein: Ich ging zur Bücherwand und zitierte:

»Ich glaube an Alles noch nie Gesagte,
ich will meine frömmsten Gefühle befrein.
Was noch keiner zu wollen wagte,
wird mir einmal unwillkürlich sein.«

Als Herr Christen-Gott gegangen war, goss ich mir erst mal einen Whiskey ein, mir war ganz flau im Magen. Dabei hörte ich meinen alten Lehrer Michael Avenarius sagen: ›Die sich auf Gott einlassen, werden ihr blaues Wunder erleben‹.