…in dem Herr Paulsen seinen Namenspatron näher kennenlernt – Herr Gott seinerseits eine gute Zahlungsmoral offenbart
Als Herr Christen-Gott nach unserer ersten Sitzung mir diesmal das vereinbarte Honorar aushändigte, konnte ich die Bemerkung nicht zurückhalten: »Ein schönes Gefühl ist das, wenn Gott mal pünktlich bezahlt, bei all den halbherzig oder gar nicht eingelösten Verheißungen, Versprechungen und verbindlichen Zuständigkeiten. Und schließlich war er es doch immer, der wohlgefällig die Hand aufhielt und Opfer entgegen nahm. Ihre Kirche hat da einen guten Magen, sagte schon der Dichter.«
»Mephisto im Faust sagt das, genau genommen, der ewige Krittler, mein kleiner Bruder«, meinte Herr Gott. »Der hat es übrigens längst geschafft, die reale Vorstellungsform aufzugeben und eine Gestalt der Literatur zu werden. Und hin und wieder darf er sogar auf die Bühne. Ich werde da von Fall zu Fall nur eingeblendet, aus der ewigen Herrlichkeit hernieder blickend und den Anstoß zum weiteren Geschehen gebend. Im ›Jedermann‹ ist das ja eine ganz obskure Figur.
Aber so wie Mephisto mal die Hauptfigur zu geben, dafür bin ich den Dichtern wohl zu langweilig. Ich stellte mir das heute aber mal ganz amüsant vor« Und Gott lachte.
Wir hatten uns dann in ganz gelöster Stimmung verabschiedet, was uns beiden willkommen war, denn die Sitzung selbst war belastend geworden.
Sie hatte damit begonnen, dass ich mich nun doch vergewissern musste, wie es mit meinem Klienten beschaffen war. Wenn er, wie er ja deutlich gemacht hatte, das Ergebnis von Projektionen und die klar definierte Figur von Theologen abgab, wie konnte er dann sein Sosein kritisieren, bedauern und beklagen?
»Ich bin«, explizierte sich Herr Christen-Gott, »auch der Gott des Volkes, das zuweilen wissender ist als die Wissenschaft, und der Gott der kritischen Geister, die von mir nicht lassen wollen, wie es die Agnostiker immerhin versuchen und praktizieren.
Das gab mir zunächst den Impuls und dann die Kraft, mir meiner selbst bewusst zu werden, meine teils widersprüchlichen Rollen zu sortieren und nicht mehr Vermittelbares auch nicht mehr zu vertreten Da hatte ich durchaus auch Theologen auf meiner Seite. Aber im Widerspruch zur Tradition lassen sie mich dann öffentlich wieder im Regen stehen, weil sie vor der kirchlichen Autorität einen Riesenrespekt haben – und die meisten wollen ja schließlich in ihrer Kirche noch was werden.
Dieses Dilemma hat mich ja gerade zu Ihnen geführt. Sie kennen
sich doch aus mit Identitäts-Konfusionen und Bewusstseins-Defiziten?«
Nach einem Moment des Abwägens machte ich meinem Klienten einen Vorschlag:
»Dann spüren Sie doch mal, wo es Ihnen konkret weh tut, wenn Sie daran rühren, was aktuell oder in Ihrer Biographie vielleicht ein wunder Punkt ist.«
Und wieder machte das schon bekannte »Oh Je« sich bei ihm frei, diesmal schmunzelten wir nicht.
Nach einer Pause begann er zögerlich: »Ich habe eine viel zu lange Biographie, man kann sie gar nicht in einem überblicken, und eine leidvolle dazu.«
»Das glaube ich gerne«, versuchte ich, ihn weiter zu bringen, »aber damit kommen wir hier so pauschal nicht voran. Ist Ihnen vielleicht etwas eingefallen bei dem Stichwort »Es tut wehr?«
»Ich werde Sie wahrscheinlich enttäuschen«, zögerte er, »aber ich spürte da eine uralte Wunde, ganz aus der Anfangszeit meiner Existenz, ja vielleicht begann meine Existenz als eigenständiger Christen-Gott so eigentlich da – in der Predigt des Heiligen Paulus. Ich nenne ihn mal so, wie die katholische Kirche ihn führt: heilig. Ich habe ihn allerdings eher unheilvoll erlebt.«
Jetzt kam mir so etwas wie ein Seufzer von den Lippen: Aus mir leider viel zu wenig geklärten Gründen mochte ich den Apostel Paulus auch nicht. Wenn in meinen jungen Jahren im Gottesdienst aus seinen Briefen vorgetragen wurde, verstand ich das meiste nicht, wollte es auch gar nicht, weil mir aus der Sprache dieses Heiligen so eine oberlehrerhafte Diktion, Arroganz und Rechthaberei entgegen kam. Ich hatte dann geduldig auf das Evangelium gewartet, auf eine – so meinte ich damals – authentische Jesus-Geschichte.
»Das verwundert mich nicht«, richtete ich mich wieder an Herrn Gott, »so weit ich weiß, hat er eine Menge von Ihnen behauptet, was noch heute kolportiert wird.«
»Ja leider, die Wirkungsgeschichte, wie die Theologen sagen, war ganz verhängnisvoll – ich merke, wie mir ganz schlecht wird.«
Herr Gott schaute an mir vorbei, als spürte er dem Schmerz nach. Oder sortierte er seine Erinnerungen?
»Wie wäre es, wenn wir den Herrn Paulus mal hierher einlüden?«, sagte ich in sein Sinnen hinein. »Wir haben da einen Stuhl, auf dem kann er imaginativ Platz nehmen. Könnten Sie sich das vorstellen?«
»Vorstellen schon, aber was soll das jetzt nutzen, ich schaue gerade auf den Wust seiner Korrespondenz und fühle mich, wie schon wiederholt, ganz entmutigt.«
»Vielleicht bleiben Sie nun eine Weile bei dem, was Ihnen an Schmerz erfahrbar war – Sie könnten das dem Paulus ja mal direkt sagen.«
Ich rückte ein wenig an dem leeren Stuhl und fragte: »Kann er so für Sie präsent werden?«
»Ja, ja, ich sehe ihn da sitzen, wie El Greco ihn gemalt hat. Das heißt, eigentlich steht er. Können Sie den Stuhl mal wieder wegnehmen? Ja – da stehen sie, die so ungleichen Apostel Petrus und Paulus. Ich muss sagen, sympathisch ist er mir wirklich nicht, wie er das Bild dominiert, die eine Hand auf das Buch gestützt – wohl die Heiligen Schriften –, die andere in einer Pose des Erklärens und Explizierens, wie ein Ideologe keinen Widerspruch duldend. Fast kahlköpfig hat ihn der Künstler gemalt. Mit kaltem Blick schaut er frontal aus dem Bild heraus. Sein rotes Gewand unterstreicht das Offensive, ja Aggressive seines Auftritts, oder sollte das ein Anklang an Kardinals-Rot sein?
Petrus steht ganz ergeben daneben. Er hält sein Gewand zusammen, das fast farblos bleibt und schaut mit schrägem Kopfe diagonal zwischen Paulus und dem Betrachter aus dem Bild ins Leere: eine frappierende Gestaltung des Rollenpaares Herr und Hirte.
Die Kirche im Spanien des 16. Jahrhunderts war wohl eine sehr paulinische, und daran denke ich gar nicht gern, es war ja eine furchtbare Zeit, ja es ist zum Fürchten…«
Herr Gott schaute mich hilfesuchend an. Mir gingen auch ein paar Episoden aus dieser Zeit der Kirchengeschichte durchs Gemüt, und es fiel mir nicht leicht, mein Gegenüber zu erinnern: »Sie haben ihm noch gar nichts gesagt!«
»Ich komme mir so klein vor«, bemerkte Herr Gott, »vielleicht geht es besser, wenn ich auch aufstehe:
Also, mein lieber Herr Paulus, vielleicht haben Sie eben schon mitgehört, dass ich mich vor Ihnen fürchte, ja immer schon gefürchtet habe. Vielleicht geht es mir so wie den frühen Christen, die Sie mit dem Schwert verfolgt und auch umgehauen haben. So ein inquisitorisches Denken und Ausagieren kommt aus einer gestörten Persönlichkeit, die von Visionen und Auditionen auch nicht besser wird. Auch wenn Sie dann anschließend im Korintherbrief selbst-aggressiv lieber Ihren Leib züchtigen und unterwerfen wollten und zwanghaft das verkündigten, was Sie für das Evangelium hielten, lässt sich auch mit Wohlwollen nicht verbergen, wie eine narzisstische Aggressivität durch Ihre Briefe wabert. Sie gibt Ihren Schülern und Tradierern durch die Christentumsgeschichte hindurch dann Rechtfertigung und Antrieb, bis in die Gegenwart.
Sie hätten wohl besser in Therapie gehen sollen, statt Theologie zu treiben. Allzu viele haben Ihnen das dann leider nachgemacht und sind davon nicht heiler geworden. Ihrerseits haben sie aber viele ihnen Anvertraute in Konflikt, Leid und Neurose pastoralisiert. Aber ich sehe, so was gab’s damals ja noch nicht – schade!
Wollen wir uns nicht setzen?«, gab Herr Gott wie einen Rettungsanker von sich und nahm sich eine Verschnaufpause.
»Und was haben Sie sich«, fuhr er daraufhin erregt fort, »da zusammen phantasiert und geschlussfolgert, dass der Juden-Gott plötzlich Satisfaktion forderte und Jesu Kreuzestod soll ihn dann gnädig gestimmt haben. Weil die Deutung als Menschenopfer nun wirklich nicht mehr opportun war, wurde daraus flugs ein Gottesopfer und damit Jesus zum Sohn des Juden-Gottes befördert. Das wiederum war für jüdische Ohren ein Unding, da musste ein Christen-Gott her, und damit haben Sie mir die ersten Konturen verpasst. – Bloß weil Sie es nicht ertragen konnten, dass Jesus mit seiner Nähe zum Göttlichen, mit seiner Distanz zum gesetzes-fixierten Gottesverständnis bei den vielen gescheitert war – und die Kreuzes-Hinrichtung für Sie und Ihren Christuskult blamabel war. Ja, ›verpasst‹ ist das richtige Wort. Passend haben Sie meine Gestalt gemacht für die Kompensation Ihrer eigenen Sünden- und Todes-Ängste. Aber mir passt das heute gar nicht mehr, und viel zu eng und starr war es all die Zeit seitdem.
Zugegeben, der Auferstehungs-Mythos geht nicht auf Ihre Rechnung, aber Sie haben ihn geschickt und pathetisch in Ihre Sühne-Christologie eingepasst.
Und nun waren die frühen Christen also auf einmal erlöst und angeblich auch die Christen aller Zeiten, wenn sie dieses Konstrukt glaubten. Das nun ist das Entlarvende an der ganzen Geschichte, und das schmerzlich Bedrückende, dass Sie damit die Reich-Gottes-Botschaft Jesu, die vom Göttlichen ein menschen- und schöpfungsfreundliches Da-Sein, eine beglückende und heilbringende Nähe zusagt, pervertiert haben. Ja, verdreht in Ihre alte Leistungs-Religiosität.
Sie sagen wohl, Gott rechtfertige den Sünder aus Gnade, als nicht verdienbares Geschenk. Und dann kommt durch die Hintertür doch wieder das konditionale und konditionierende ›Wenn‹. Wenn der Mensch glaubt, wenn er Christ wird und bleibt – sonst geht’s ihm schlecht.
Was Sie damit in die Welt gesetzt und mich als Christen-Gott damit ausstaffiert haben, ist ungeheuerlich, vor allem für die immer späteren Menschen der Christentumsgeschichte.
Die Frohe Botschaft der frühen Gemeinden und Tradierer zu glauben, vor allem die Augenöffnung für die bedingungslose Nähe des Göttlichen, war ja noch ein Vergnügen. Aber die von Ihnen in die Christenheit transferierte Sünden-Fixiertheit, die verschachtelten Argumentationen, die rigide Lehre und die im Laufe der Zeit immer leib- und lust-feindlicher werdende inhumane Moral, all das zu glauben, das heißt: schlichtweg für göttlich zu halten – das ist eine Zumutung, eine Überforderung des Menschen, ein Skandal!«
Herr Gott war wirklich den Tränen nahe und schneuzte sich kathartisch. »Jetzt ist es raus.«, sagte er erleichtert zu mir gewandt und zum Stuhl des Paulus gerichtet: »Wir sehen uns noch, das ist noch lange nicht alles, für heute kann ich nicht mehr.«
Ich zog den leeren Stuhl ganz aus der Szene, und ein ganz sparsames, vorsichtiges Lächeln schuf sich Bahn im Gesicht des Herrn Christen-Gott.
Wiewohl mein Klient sich dann auch noch erleichtert zurücklehnte, erkundigte ich mich nach seinem Befinden, zumal mit Blick auf das soeben Erlebte.
»So weit ganz gut«, kam die Antwort zurück. »Gut auch, dass ich mal einen Anfang gemacht habe mit dem Sakrileg, die Heilige Schrift zu kritisieren. Was haben die Theologen nicht alles für Hand- und Kopf-Stände gemacht, um diese paulinischen Setzungen in die jeweilige Zeit verständlich und akzeptierbar zu machen. Bis ins Paradoxe haben sie sich verstiegen.
Was mich weiterhin schmerzt, sind die Schicksale der vielen Menschen, die mit dieser Gottes-Lehre nicht klar kamen, sie trotzdem gläubig annahmen und damit halbwegs verzweifelten. Ich denke da gleich an Kierkegaard, wo ich gerade in Dänemark wohne.
Mich plagt da noch ein anderes Wort, das mir in dieser frühen Zeit angehängt worden ist, im Hebräer-Brief – nicht direkt von Paulus, aber aus seiner Szene: ›Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er‹.
Ich bitte Sie! Und so was wird noch heute in der Liturgie verlesen! Gut, das stammt ursprünglich aus dem Buch der ›Sprüche‹ im Alten Testament, und auch Psalmisten und Propheten hatten so ein Verständnis. Aber was soll ich als Christen-Gott damit, nach dem Gottes-Bild Jesu? Das macht mich doch für alles verantwortlich, was den Gläubigen misslingt oder übel zustößt. Und dann müssen sie immer noch ›Lieber Gott‹ zu mir sagen!
Gar nicht mehr zu schweigen ist aber auch von den vielen Erziehungspersonen, ob in Kirche, Schule oder Elternhaus, die sich in ihrem übergriffigen, sadistischen Tun von so einem Gottes-Wort ermutigt und gerechtfertigt fühlten und teils heute noch sehen.
Aber für heute mag das mal genug sein. Es nimmt mich ziemlich mit, dieses Gründeln in der Zeit und Rühren an den Schmerzpunkten.
Gut, dass Sie mich so beharrlich auf dem Weg gewiesen haben.«