…das eigentlich das erste ist,
in dem Herr Paulsen eine Epiphanie erlebt.
Die Erscheinung des Herrn Kristen Gott entsprach durchaus der Vorstellung, die ich mir nach dem kurzen Telefonat gemacht hatte. Altersmäßig war er schwer zuzuordnen, klassisch-adrett gekleidet umgab ihn ein eher konservatives Flair.
Er kam, als ich die Tür geöffnet hatte, gleichsam auf mich zu, mit einer gewinnenden Art, in der sowohl eine ernsthafte Klarheit mitschwang wie eine jugendliche Heiterkeit. ›Michael Avenarius«, dachte ich spontan. Ein Lehrer, den ich wegen eben dieser für meine Erfahrung seltenen Wesenskombination sehr geschätzt hatte, kam mir in Erinnerung. Und der persönliche Schriftzug seines eigentlich martialischen Namens Michael stand mir vor Augen, der auffallend viele gefällige Rundungen enthielt, die er mit einem einladenden Eröffnungsbogen vor dem M noch verstärkte.
Und hier und jetzt: Kristen? Bevor ich dem abweisenden Krrr weiter nachspüren konnte, meinte der Herr jovial: »Wollen Sie mich nicht hereinbitten?«
Als wir Platz genommen hatten, wollte mir keine Eröffnungsformel passend erscheinen: Nach einem Problem zu fragen, verbat sich bei der Erscheinung des Gegenüber, und die Formel » Was haben Sie denn mitgebracht?« erschien deplaziert, denn sichtlich saß der Mann völlig ledig und leicht in seinem Stuhl.
Ich schaute an ihm vorbei ratlos und sinnend aus dem Fenster in den Garten.
Mit einem Lächeln eröffnete mein Gegenüber das Gespräch: »Ich habe
von Ihnen gehört, Sie machen in Gestalt?«
Etwas holperig stellte ich mich also vor und bemerkte, dass man
über Gestalt nicht so gut reden könne, es sei eine Erfahrung.
Er schien das zu wissen, behielt gleich auch das Wort und lächelte
erneut:
»Sie sollen gut zuhören können?«
»Ach Gott«, seufzte ich etwas unkontrolliert und hörte, wie das Wort Gott nachklang. Auch er hatte den Anklang an seinen Namen bemerkt, schien das aber zu kennen, und sagte ganz unprätentiös: »Ja, ja! Um Ihnen die Anfangsdiagnose zu erleichtern: Identitätskrise mit depressiven Verstimmtheiten.«
Großmütig lächelnd griff ich nach meinem Notizblock, schaute auf
und ihn an: »Sie erlauben doch, dass ich mir Notizen mache?«
»Machen Sie nur, das steht Ihrem Namen gut an, Herr Pauli.«
»Pardon, Paulsen«, korrigierte ich. »Uwe Paulsen. Meine Familie stammt aus Nordjütland. Aber ich bin nicht glücklich mit meinem Namen. Petersen wäre zwar noch schlimmer gewesen, aber Christophersen wäre meins, wenn schon -sen, oder -sohn.«
›Was schwadronierst du da‹, dachte ich und rettete mich mit einem Griff nach dem Stift. »Dann schreibe ich mir gleich auch Ihre Adresse auf. Svendborg sagten Sie?«
»Ja, Missionshotel, Strandvey 20.«
Er sagte ›tyve‹ für zwanzig, als wollte er mit dem Dänischen kokettieren. Ich notierte und schaute fragend auf.
»Sie müssen wissen, ich reise inkognito. Als Herr Gott kann ich mich im säkularen Dänemark problemlos bewegen, und die im Hotel, die ihren Pietismus immer noch nach Afrika exportieren wollen, können sich im Traum nicht ausmalen, dass der Herr Gott ausgerechnet in ihrem Hause absteigt. Aber notieren Sie lieber meine eMail-Adresse: christen-gott@inkognito.dk.«
Er hatte mir beim Schreiben aufs Blatt geschaut, und als ich mit Kr beginnen wollte, als hätte er es erwartet, diktierte er: »Chr und mit Bindestrich.«
»Nun ja!« Das musste ich erst mal so stehen lassen. Ich knüpfte also an seine Selbstdiagnose an und fragte gleich weiter: »Wie erleben Sie das, was bringt Sie zu dieser Einschätzung?«
Mitlaufend ging mir durch den Kopf: Wahrscheinlich Therapie-Vorerfahrung, hoffentlich nicht resistent!
Bei dem Wort ›resistent‹ schämte ich mich allerdings bereits, weil gerade jetzt erstmals ein resignatives Lächeln mit einem schmerzhaften Unterton auf seinem Gesicht erschien und mein Gegenüber ein »Oh Je!« verlauten ließ. Wir mussten beide über diese erneute Anzüglichkeit schmunzeln.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »ich lebe mit einer verhängnisvollen Disposition: Ich bin eine Erscheinung der Öffentlichkeit. Jedermann kennt mich oder vermeint dies, oder hat doch von mir gehört.
Wie ein repräsentierender Monarch bin ich aber ein Phänomen von Projektionen, das Ergebnis von Sehnsüchten und Erwartungen der Einzelnen und der Vielen, die sich umgekehrt wieder von mir repräsentiert sehen wollen, die sich in mir anschauen und wiedererkennen wollen. Und die Hoftheologen und Imageberater in Rom und an den Hochschulen machen danach für jede Gesellschaft und für jede Generation eine Person der Öffentlichkeit aus mir, die der Mehrheit, zumindest der weniger Erleuchteten, dann gefällt. Als Gott muss ich schließlich beim gläubigen Volk ankommen – ohne Volk kein Gott.«
Ich nickte etwas fassungslos zu dieser Eröffnung, doch Herr Christen-Gott ließ sich nicht unterbrechen.
»So musste und konnte ich mich durch die Jahrhunderte, und vor allem durch die letzten Jahrzehnte, ständig wandeln und den veränderten Bedürfnissen anpassen und doch den Eindruck vermitteln, ich sei immer der Gleiche. Dies behaupten vor allem die Priester und Theologen. Leider wurden dabei aber meine Beliebtheits- und Bekanntheitswerte ständig rückläufiger, wie bei einer schlechten Fernsehshow die Einschaltquoten.
Sie hatten mich ja dogmatisiert und in ihren Kirchen als Bild gemalt oder an die Wände gepinselt und damit bin ich, was ich sein soll, Sie können es nachlesen und in der christlichen Kunstgeschichte durchblättern.
Hin und wieder habe ich da sogar eine Tiara auf dem Kopf, die Papstkrone. Die Leute mochten es offenbar, wenn Gott wie ihr Papst aussieht und der Papst sich bejubeln lässt, als sei er Gott. In Rom brauchen sie mich daher schon lange nicht mehr. Das übernimmt dort der Stellvertreter Christi.«
»So ähnlich hatte ich mir das auch schon vorgestellt«, musste ich
nun doch beipflichten. »Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass es Gott
dabei so schlecht geht.«
Mein Gast lächelte schon etwas entspannter, als er sich erinnerte: »Dann hat es da ja kürzlich, nein, es war schon vor bald hundertfünfzig Jahren, einen gegeben – kein Theologe natürlich -, der verkündete ›Gott ist tot‹ und ›Wir haben ihn getötet‹. Das war mir nun aber eine Erleichterung und Befreiung – endlich schrie das einer in die christliche Welt und gab mir die Chance, meine Wesenheit zu beenden und vielleicht so dem eigentlich Göttlichen in dieser Welt Raum zu schaffen. Nicht mehr Gott zu sein, von dem alle alles wussten und doch nichts verstanden – bis auf ein paar wenige. Nicht weiterhin ein biegsamer Stoff für die Philosophen oder ein Ereiferungs-Objekt für die Theologen und doch schließlich nur Container für religiöse Sentimentalitäten der schlichten Gemüter..
Nach ein paar Jahren schließlich spotteten sie: ›Nietzsche ist tot, aber Gott lebt‹.
Da musste ich also weitermachen. Und als hundert Jahre nach Nietzsche eine mutige Frau eine »Theologie nach dem Tode Gottes‹ versuchte und zur Sprache brachte, was viele nun doch endlich dachten und spürten und hofften, nämlich dass das Göttliche im Zwischenmenschlichen zu entdecken und zu realisieren sei, kritisierten die Amtstheologen wieder: ›Verkürzt, verstümmelt – nur noch horizontal! Wo bleibt die Vertikale zwischen Himmel und Erde?‹ Dabei hatte sich zu der Zeit längst herumgesprochen, dass die Himmel leer waren – was sollte denn da noch die Vertikale?«
Herr Christen-Gott hatte sich seinerseits etwas ereifert, und ich konnte nur kleinlaut einwerfen: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da helfen kann. Mir scheint ohnehin, als gehörte die traditionelle Christenheit in Therapie.« Aber als er mich anschaute, wusste ich, dass ich ablenkte und dabei war, mich aus einer Affäre zu ziehen, in die ich unversehens nun einmal geraten war.
Gerade schlug die Wanduhr und ich sah, dass die eingeplante Zeit zu Ende war. Ich blickte zurück und sagte wie aus einem zwanghaften Impuls heraus: »Gut, wenn Sie wollen, können wir einen Fünferpack vereinbaren. Ob das fokal wird, sei dahingestellt.«
»Schon gut«, antwortete Herr Gott, »fünf Termine nehme ich mir
gerne vor.«
Und da sagte ich auch noch: »Ich würde mich freuen.«
Aber meine Professionalität war ohnehin erschüttert. Als er mir im Hausflur ein Honorar entrichten wollte, verwies ich auf den eigentlichen Beginn beim nächsten Termin. Aber was sollte da noch beginnen?
Im Büro nahm ich den Schreibblock wieder auf und notierte: Feuerbach – Nietzsche – Sölle und was mir dazu noch in Erinnerung war.
Dann machte ich das große Fenster hinter dem Klientenstuhl weit auf.