Meister Eckhart ist kein Philosoph d e s Christentums
Damit soll dem gleichnamigen Buch von Kurt Flasch (2010) nicht widersprochen, aber darauf hingewiesen werden, dass es zutreffender sein könnte, Eckhart einen Philosophen im Christentum (und tendenziell aus ihm heraus) zu nennen.
Eckhart hat das, worunter er als Hochschullehrer angetreten war, nämlich das Christentum samt der Heiligen Schrift als vernünftig zu erweisen, ehrlicherweise nicht geschafft, wohl weil es gar nicht leistbar ist.
Ansatzweise und eher implizit hat er wohl erkannt, dass das Christentum weitgehend auf Mythen aufgebaut ist und diese Mythen theologisch zu historischen und überzeitlichen Tatsachen und Begründungen stilisiert hat. So etwas ist eben vor- philosophisch.
Es ist ja erstaunlich, zu lesen und in den Predigten zu „hören“, wie er die Bibel allegorisch liest und rezipiert (1), ja stellenweise geradezu als Vorwand nutzt, weil die Liturgie eben die Lesung aus der Heiligen Schrift vorsieht und er nicht gleich drauflos argumentieren kann (Beispiele für viele andere: Quint, Predigten 2, 3 und 10).
(1) Predigt 2
Intravit Jesus in quoddam castellum et mulier quaedam,
Martha nomine, excepit illum in domum suam. Lucae II. (Luc. 10,38)Ich habe ein Wörtlein gesprochen, zunächst auf lateinisch, das steht geschrieben im Evangelium und lautet zu deutsch also: »Unser Herr Jesus Christus ging hinauf in ein Burgstädtchen und ward empfangen von einer Jungfrau, die ein Weib war.«…
(Quint 2, S. 159)
In Predigt 2 übersetzt Eckhart schon gleich aus dem lat. Predigttext Lk 10 höchst eigenwillig und formal inkorrekt: aus mulier Martha nomine excepit illum (in der Einheitsübersetzung: Eine Frau namens Martha nahm ihn auf) wird bei Eckhart: …und ward empfangen von einer Jungfrau, die ein Weib war.
In der Predigt selbst deutet er sodann die so ungleich sich verhaltenden Schwestern Maria und Martha als zwei Weisen einer Person (symbolisch als „Jungfrau“ und „Weib“) im Hinblick auf die Gottes- Erkenntnis und das Leben daraus. Dies ist ein Ansatz, der erst in unseren Tagen wieder in der tiefenpsychologischen Bibelhermeneutik nach C.G. Jung gebräuchlich geworden ist.
In Predigt 3 macht Eckhart flugs aus der hagiographischen Petrus- Perikope in Apg 12 eine Parabel (2), wiederum für die Erkenntnis, die aus den Fesseln der Ichhaftigkeit „durchbricht“ zur Einigung mit dem Göttlichen.
(2) Predigt 3
Nunc vere, quia misit dominus angelum suum (Act. 12, 11)Als Petrus durch die Gewalt des hohen, obersten Gottes aus den Banden seiner Gefangenschaft befreit worden war, da sprach er: »Nun weiß ich wahrhaft, daß Gott mir seinen Engel gesandt und mich erlöst hat aus der Gewalt des Herodes und aus den Händen der Feinde« (Apg. 12, 11; vgl. auch Ps. 17, 1). Nun kehren wir dieses Wort um und sagen: Weil Gott mir seinen Engel gesandt hat, deshalb erkenne ich wahrhaft. »Petrus« besagt soviel wie Erkenntnis. Ich habe es auch sonst schon gesagt…
(Quint 3, S. 165)
Ganz mutig geht Eckhart mit dem Predigttext 10 um (3). Der Bibeltext Sir 50 ist ein überschwengliches Loblied auf den Hohenpriester Simeon II (218 – 192). Eckhart jedoch bemüht sogleich das „Buch der 24 Philosophen“ aus dem 12. nachchristl. Jahrhundert herbei, um seine Gotteslehre zu entwickeln.
(3) Predigt 10
Quasi stella matutina in medio nebulae et quasi luna plena in
diebus suis lucet et quasi sol refulgens, sic iste refulsit in templo die.
(Eccli 50, 6/7)Wie ein Morgenstern mitten im Nebel und wie ein voller Mond in seinen Tagen und wie eine strahlende Sonne, so hat dieser geleuchtet im Tempel Gottes« (Jes. Sir. 5O, 6/7). Nun nehme ich das letzte Wort: »Tempel Gottes«. Was ist »Gott«, und was ist »Tempel Gottes«! Vierundzwanzig Meister kamen zusammen und wollten besprechen, was Gott wäre…
(Quint 10. S. 195)
Drei Beispiele also, die konkret Einblick geben in Eckharts Arbeitsstil, mit dem er die biblischen Texte für sein Herzens- Anliegen, das erkennende Einswerden mit dem Göttlichen, transparent macht: eine frühe Form der Entmythologisierung gewissermaßen.
Schon in seinen lat. Bibel- Kommentaren geht er nicht anders vor, verlässt sogar den Text- und Sinn- Zusammenhang nach „Steinbruch- Methode“. Sein 2. Genesis- Kommentar hat das Wort „parabolisch“ gleich im Titel (Liber parabolarum Genesis).
Das wörtliche Textverständnis ist nach diesem Ansatz gerade noch für „den groben menschlichen Verstand“ zuträglich (4).
(4) Und dies ist immerfort und meine ganze Klage, daß grobsinnige Leute, die Gottes Geistes bar sind und nichts davon besitzen, nach ihrem groben menschlichen Verstand beurteilen wollen, was sie hören oder lesen in der Schrift…
(Quint, S. 124)
„Eckhart liest in der Genesis seine philosophische Theologie, seine Intellektlehre und Ethik. Beweisen aus der Bibel will er sie nicht. Er bestätigt sich aus ihr…“
(Flasch 2010, S. 158)
Der schon genannte Mystiker Angelus Silesius hat dieses Schrift- Verständnis auf den Punkt gebracht:
„Die Schrift ist Schrift, sonst nichts!
Mein Trost ist Wesenheit.
Und daß Gott in mir spricht
das Wort der Ewigkeit.“
Und gar die Christologie und die damit verbundene Trinitätslehre werden in ihrer theologischen, dogmatischen Struktur in den Predigten ganz am Rande, ja fast nur redensartlich erwähnt. Eckhart beharrt (auch nach seiner Anklage) auf seiner Ablehnung der distinctio (der Unterscheidung in drei Personen) und auf seiner Gottes- Rede: „Das Göttliche ist ein einiges Eines“ (Quint, S. 164).
In seinem lat. Johannes- Kommentar, vor allem dem Joh- Prolog: „Im Anfang war das Wort – in principio erat verbum (gr. Logos)“ (Der Autor des Joh- Evangeliums schrieb griechisch!) – nimmt Eckhart den Begriff „Logos“ als das, was er ist, nämlich ein Topos der griechischen Philosophiegeschichte von Heraklit bis zur Stoa, in deren Zeit (um 100 n. Chr.) Johannes seine Entlehnung dann ja vornahm.
Wie kaum ein anderes griechisches Wort hat Logos eine verwirrende Breite von Bedeutungsinhalten: Wort, Rede, Sinn, Denken, usf., auch Gegensatz zu Mythos.
Bei Heraklit (um 500 v. Ch.) ist Logos das immanente Prinzip kosmischen Werdens und die alles Weltgeschehen strukturierende Gesetzmäßigkeit (Wie, unabhängig davon, bei Laotse das Tao!)
In der Stoa, vor allem der späteren Phase (ca. 100 v. bis 200 n. Chr.) einer Zeit, in der die mythologischen Götter in ihrer Bedeutung verblassten, erhielt diese ordnende Kraft des Weltgeseztes dann göttlichen Charakter, blieb aber immer unpersonal und welt- immanent.
In dieser Zeit nun, in der im gebildeten hellenistisch- römischen Bürgertum und Adel Religion (Mythos) durch (Lebens-) Philosophie ersetzt wurde, versucht Johannes, den inzwischen etablierten Christus- Mythos griechisch zu unterfüttern und setzt den zum Christus avancierten Jesus v. Nazareth als Personifizierung des Logos (verbum, „Wort“), was offenbar bereitwillig aufgenommen wurde. Ja, in seiner synkretistischen Dreiheit (Christus als jüdischer Messias, als hellenistisch- mythischer Gottessohn und als griechisch- philosophischer Logos) hat dieses Konstrukt bis heute Bestand. Eckhart macht nun zu einer ebenso späten wie relativ frühen Zeit der Kirchengeschichte eine Rolle rückwärts und befreit den Logos aus der christlich – mythologischen Übermalung. Ineins damit befreit er den armen Rabbi Jesus von dem christologischen Überbau.
Dabei kommt ihm die Wortwahl des Joh sehr entgegen, insofern dieser den Logos (verbum) „in principio“ ansiedelt: im Ursprung (fälschlich übersetzt mit „im Anfang“). Logos hat keinen Anfang (kein „war“), er ist überzeitlich, ist im „Nun“ (5), wie Eckhart sagt, Logos ist prinzipiell!
(5) Nehme ich aber das Nun, so begreift das alle Zeit in sich. Das Nun, in dem Gott die Welt erschuf, das ist dieser Zeit so nahe wie das Nun, in dem ich jetzt spreche, und der Jüngste Tag ist diesem Nun so nahe wie der Tag, der gestern war.
(Quint 10, S. 195)
So lässt Eckhart sich von dem Begriff zu der platonischen Ideenlehre leiten, dem Grundgerüst seiner Welterklärung: Logos ist Bild, Idee (ratio idealis) der Urwirklichkeit, ist Vernunft, die zur Urvernunft weist, ist Vermögen, das die Wahrheit (das Unverborgene) zutage fördert, ist „Sohn“ des Göttlichen, ist Erkenntnis, die jeder Mensch ursprünglich schon in sich trägt.
Wie schon wiederholt dargelegt wurde, „demokratisiert“ Eckhart in seinen Predigten diese Vorstellung vom Logos/Sohn (6), die im Joh- Evangelium ja exklusiv für Jesus Christus gilt, dann für den Menschen generell (7), wie der Gesamtkontext der Herleitung ja auch nahelegt. Ja, in der Folge von Joh (und der Stoa) universalisiert Eckhart Logos als Prinzip, Vernunft, Idee für „alle Dinge“.
(6) Nun spricht unser Herr: Niemand erkennt den Vater als der Sohn und niemand den Sohn als der Vater« (Matth. 11, 27). Fürwahr, sollen wir den Vater erkennen, so müssen wir Sohn sein.
(Quint 49, S. 385)
(7) Der Vater gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit sich selbst gleich. »Das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort«: es war dasselbe in derselben Natur. Noch sage ich überdies: Er hat ihn geboren aus meiner Seele. Nicht allein ist sie bei ihm und er bei ihr als gleich, sondern er ist in ihr; und es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nicht anders… Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlaß, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage noch mehr: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur…Alles was Gott wirkt, das ist Eins; darum gebiert er mich als seinen Sohn ohne jeden Unterschied.
(Quint 7, S. 185)
Ich sage: Hätte Maria Gott nicht zuerst geistig geboren, er wäre nie leiblich geboren worden…Es ist Gott wertvoller, daß er geistig geboren werde von einer jeglichen Jungfrau oder (= will sagen) von einer jeglichen guten Seele, als daß er von Maria leiblich geboren ward.
(Quint 23, S. 256)
Darunter ist zu verstehen, daß wir ein einiger Sohn sein sollen, den der Vater ewiglich geboren hat. Als der Vater alle Kreaturen gebar, da gebar er mich, und ich floss aus mit allen Kreaturen und blieb doch drinnen in dem Vater.
Von der Urvernunft ist es dann nicht weit zum „Intellekt“ (8), wie Eckhart (und andere vor ihm) ihn verstehen und vertreten.
(8) Zehntens ist festzuhalten: Es ist dem Intellekt eigen, seinen Gegenstand, das Intelligible, insofern es ein Ganzes, Vollkommenes und Gutes ist, nicht für sich zu nehmen, sondern in seinen Ursprüngen (in suis principiis). Und das bedeutet es, wenn hier gesagt wird: „Im Anfang war das Wort“ und wiederum „…dieses Wort war im Anfang bei Gott“.
(Lat. Joh. Kommentar, Largier, S. 496)
(Wenn Martin Heidegger (1949, S. 5) sagt: „Die Sprache ist das Haus des Seins“, dann könnte man zu Eckhart sagen: Der Intellekt ist das Haus der Erfahrung des Göttlichen).
Nicht weit ist es z.B. auch zur neuplatonischen Emanations- Vorstellung, nach der alle Seinsformen aus dem Einen ausfließen (geboren werden) oder auch umgekehrt, die Dinge ins Sein gebracht werden. Vom biblischen creator (dem Schöpfergott) ist bei Eckhart also nicht viel die Rede, nur redensartlich spricht er von „Kreatur“ und „kreatürlich“, gelegentlich auch von „die Welt erschuf“.
Selbst mit dem ihm zeitlich nahestehenden Thomas von Aquin stimmte er in Manchem nicht mehr überein, was allein schon gefährlich war. Thomas war in Orden und Kirche inzwischen sakrosankt (Heiligsprechung 1323). Eine Ordensverfügung stellte Abweichungen streng unter Strafe. Doch Eckhart wollte und schuf Neues!
Somit muss man wohl, ganz in Übereinstimmung mit Kurt Flasch, sagen, dass Meister Eckhart die Philosophie aus der Rolle der „Magd der Theologie“ emanzipiert und damit eine Grundlage geschaffen hat für beispielsweise Nicolaus von Kues und später dann Humanismus, Aufklärung und ein Denken frei von kirchlicher Wahrheits- Eitelkeit.
Damit schließt sich der Kreis zu den Anfangskapiteln dergestalt, dass auch heute wie 1329 für die verfasste Christenheit gilt, dass Eckhart die Orthodoxie (Rechtgläubigkeit) überstiegen hat (allerdings ohne sich selbst überhoben zu haben) und die christlichen Kirchen (9) bis heute herzlich wenig mit Eckhart anfangen können und wollen – was allerdings nicht gegen Meister Eckhart spricht.
(9) Es gibt etwas, das über dem geschaffenen Sein der Seele ist und an das kein Geschaffensein, das (ja) nichts ist, rührt; selbst der Engel hat es nicht, der (doch) ein reines Sein hat, das lauter und weit ist. selbst das rührt nicht daran. Es ist göttlicher Art verwandt, es ist in sich selbst eins, es hat mit nichts etwas gemein. Hierüber kommen manche Pfaffen zum Hinken.
(Quint 31, S. 302)
Ein Gedicht aus der Zeit Eckharts, anonym überliefert, gibt Zeugnis von Eckharts Wirken und bringt Grundanliegen auf den Punkt.
Der wise meiser Hechard
Wil uns von nihte san;
Der das niht enverstat,
Der mag es gote clan;
In den hat niht gelûchtet
Der godeliche schin!
Scheidet abe gar,
Nement godes in ûch war,
Senkent ûch in synekeit,
So werdent irs gemeit.
Der erfahrene Meister Eckhart will uns vom Nichts reden. Wer das nicht versteht, der soll es Gott klagen: In den hat nicht der göttliche Glanz geleuchtet. – Scheidet euch völlig ab, nehmt Gott in euch wahr, senkt euch in eure Vernunft, so werdet ihr glücklich darüber.
(Zit. n. Wehr, S. 108)