Meister Eckhart ist kein Ideologe und Eiferer.
Auch in dieser Hinsicht ist es lohnend, auf die Geschichte des Ordens zu blicken, dem Eckhart ja angehörte.
Da werden wir, was Eiferer anbetrifft, ebenso fündig wie überhaupt in der Kirchengeschichte, wo doch vom neutestamentlichen Paulus (dem Chefideologen) bis hin zu Johannes Paulus (mit seinem polnischen Nationalkatholizismus) und darüber hinaus eine Fülle von Haudrauf- Eiferern zu beklagen ist. Eckhart würde dazu in seiner bescheidenen Wortwahl sagen: „… man muß es hingehen lassen, es ist aber das Rechte nicht“ (Quint, S. 183).
Die Dominikaner nun haben ja die zweifelhafte Ehre, dass sie sich für die Vorwärtsverteidigung der Kirche im Mittelalter ebenso einspannen wie von der Inquisition instrumentalisieren ließen. Eine völlig gewissenlose Anbiederung hatte sich schließlich ein Mönch namens Johannes Tetzel (1465-1519) mit dem Ablasshandel geleistet, dessen Verdienst es immerhin ist, nicht unmaßgeblich zur Reformation Luthers beigetragen zu haben, wenn auch unwillentlich.
Das hat Eckhart gewissermaßen implizit wohl auch, explizit wurde er allerdings, wie alle Mystiker, von den Reformatoren abgelehnt.
Dass aus Meister Eckhart selbst kein Reformator geworden ist, wiewohl seine Worte deutlich Sprengkraft hatten, liegt wohl daran, dass er völlig uneitel war und sich dazu nicht hat machen lassen. Er war, was sein Status- Selbstverständnis anbetrifft, ein gehorsamer Ordensmann und ein der Kirche verpflichteter Theologe. Allein seine Philosophie ließ sich von diesen Eingrenzungen nicht halten. Aber lange galt das für die jeweiligen Oberen offenbar als ungefährlich.
Im Übrigen war Eckhart selbst in unterschiedlichen Leitungsfunktionen im Orden: als Prior in Erfurt, als Provinzial der Saxonia und Generalvikar in Böhmen und später in Straßburg.
Dass trotzdem einige 17 Sätze von ihm als herätisch verurteilt wurden, lag wohl eher daran, dass er von missgünstigen Brüdern im eigenen Orden oder von den gegnerischen Franziskanern denunziert worden ist (1). Eckhart konnte dies nämlich nie verstehen und hatte sich ja auf den Weg nach Avignon gemacht, um sich an höchster Stelle zu verteidigen und zu rechtfertigen, nicht aus Angst vor der Inquisition, sondern weil er überzeugt war, dass er schlichtweg nicht oder missverstanden worden war.
Eckhart wurde posthum verurteilt (1329). Über seinen Tod geben die Quellen nichts her.
(1) Ist aber jemand, der dieses Wort unrecht versteht, was kann der Mensch dafür, der dieses Wort, das recht ist, recht äußert?
(Quint, S. 139)
Gemäß der Freiheit und den Privilegien unseres Ordens bin ich nicht gehalten, vor Euch zu erscheinen noch auf die (gegen mich erhobenen) Vorwürfe zu antworten, zumal ich nie der Häresie beschuldigt worden bin und jemals im Rufe (der Häresie) gestanden habe, wofür mein ganzes Leben und meine Lehre Zeugnis geben, und damit stehe ich im Einklang mit der Ansicht meiner Brüder des ganzen Ordens und des Volkes beiderlei Geschlechts im gesamten Umkreis der Ordensnation. – Daraus erhellt zweitens, daß der Auftrag, der Euch vom ehrwürdigen Vater, dem Herrn Erzbischof von Köln (dessen Leben Gott erhalten möge), erteilt wurde, keinerlei Rechtskraft hat, entstammt er doch verleumderischer Einflüsterung, einer üblen Wurzel also und einem üblen Baum. Hätte ich geringeren Ruf beim Volke und minderen Eifer für die Gerechtigkeit, so wäre gewißlich nichts dergleichen von meinen Neidern gegen mich versucht worden. Indessen kommt es mir zu, dies geduldig zu tragen…
(zit. n. Wehr, S. 39)
Eckhart hat sich keine Feinde „gemacht“, weil er wissenschaftlich redlich geschrieben und nicht offensiv oder gar aggressiv gepredigt hat. Er war sich offenbar seiner Einsichten so sicher (2), dass er darob niemanden angreifen musste. Das Werben für seine Sache war da völlig genug.
Selbst wenn er ethisch deutlich wurde, blieb seine Rede verbindlich. Im Übrigen war er kein Entweder- Oder- Mensch, der Gut- Böse- Denkmuster bediente. Geradezu tröstlich entwickelt er seine Lehre als im Prozess zu befolgen (3).
(2) Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.
(Quint 32, S. 309)
(3) »Gott wohnt in einem Lichte, zu dem es keinen Zugang gibt« (1Tim. 6, 16). Niemand verzage hierum: wohl befndet man sich auf dem Wege oder auf dem Zugang, und das ist gut; der Wahrheit (selbst) aber ist es (noch) fern, denn es ist Gott (noch) nicht.
(Quint 40, S. 347)
Die erste Stufe des inneren und des neuen Menschen, spricht Sankt Augustinus, ist es, wenn der Mensch nach dem Vorbilde guter und heiliger Leute lebt, dabei aber noch an den Stühlen geht und sich nahe bei den Wänden hält, sich noch mit Milch labt. Die zweite Stufe ist es, wenn er jetzt nicht nur auf die äußeren Vorbilder, (darunter) auch auf gute Menschen, schaut, sondern läuft und eilt zur Lehre und zum Rate Gottes und göttlicher Weisheit, kehrt den Rücken der Menschheit und das Antlitz Gott zu, kriecht der Mutter aus dem Schoß und lacht den himmlischen Vater an. Die dritte Stufe ist es, wenn der Mensch mehr und mehr sich der Mutter entzieht und er ihrem Schoß ferner und ferner kommt, der Sorge entflieht, die Furcht abwirft, so daß, wenn er gleich ohne Ärgernis aller Leute (zu erregen) übel und unrecht tun könnte, es ihn doch nicht danach gelüsten würde; denn er ist in Liebe so mit Gott verbunden in eifriger Beflissenheit, bis der ihn setzt und führt in Freude und in Süßigkeit und Seligkeit, wo ihm alles das zuwider ist, was ihm (= Gott) ungleich und fremd ist…
(Quint, S. 143)
Ein gewisser Hinweis darauf, dass er unideologisch dachte, schrieb und predigte, ist für uns heute die Tatsache, dass es keine Eckhartianer gibt, follower also, die Eckharts „Lehre“ für absolut richtig gehalten und ihn zur Leitfigur einer Schule gemacht hätten.
Zwar nehmen die Ordensbrüder und Mystiker Johannes Tauler und Heinrich Seuse gelegentlich und mehr indirekt Bezug auf Eckhart, sehr viel später auch Angelus Silesius, aber „Schüler“ kann man sie deswegen nicht nennen, zu unabhängig reden und schreiben sie in ihren jeweiligen Kontexten.
An dieser Stelle sei an die Texte von Angelus Silesius (1624 – 1677) erinnert, der Eckharts Anliegen poetisch Gestalt gegeben hat: wie Eckhart ein „Ich“- Sager:
Ich bin so groß wie Gott, er ist wie ich so klein;
er kann nicht über mir, ich unter ihm nicht sein.
Gleich wie die Einheit ist in einer jeden Zahl,
So ist auch Gott, der Ein‘, in Dingen überall.Ich selbst bin Ewigkeit, wann ich die Zeit verlasse
Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.Halt‘ an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir.
Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.
Als Mystiker sprach Eckhart den Einzelmenschen an, auf die je eigene individuelle Gottesbeziehung hin. Hiermit war er sicher nicht nur ein Vorläufer der Reformation, sondern auch des Humanismus.
Einer der großen Denker der Renaissance, Eckhart in der pan(en)theistischen, subjektiv- individuellen Gottes- Erfahrung und Gottes- Philosophie sehr nahe, auch zeitweise Dominikaner, war übrigens Giordano Bruno. Er wurde allerdings, dies sehr zur Schande der römischen Kirche, im Januar 1600 in Rom verbrannt.